Die Figur des „edlen Wilden“ und intersektionale Theorien

Gestern tauchte in der Diskussion zu kulturellen Aneignung auch die Figur des „edlen Wilden“ auf.

Adrian schrieb:

Ach, Pjotr, „Cultural Appropriation“ ist nichts weiter, als der x-te Aufguss einer dekadenten, traumatisierten Linken, die westliche Welt, deren Kultur und „deren Protagonisten“ (weiße heterosexuelle Männer) schlecht zu machen. Das ist ja der Grund, warum es immer nur heißt, „Weiße dürfen nicht“.

Schwarze dürfen natürlich selbstverständlich Jeans tragen und Medikamente benutzen (obwohl dies von weißen, westlichen Männern erfunden wurde), ebenso, wie Muslime in westliche Kulturen einwandern und diese übernehmen dürfen.

 

Und Crumar kommentierte dazu:

Nein, Adrian, es gibt keinen „x-ten Aufguss“, sondern das Motiv des „edlen Wilden“ mit seiner unverfälschten Natur/Kultur ist wesentlich älter als die Linke im traditionellen Sinne: „Der Edle Wilde ist ein Idealbild des von der Zivilisation unverdorbenen „Naturmenschen“. Das Konzept drückt die Vorstellung aus, dass der Mensch ohne Bande der Zivilisation von Natur aus gut sei. Er ist bis heute ein beliebter Topos kulturkritischer Autoren. In der modernen Ethnologie gilt der Begriff des Edlen Wilden als längst überholte These.“ (Wiki)

Und so geht es weiter: „Schon Louis-Armand de Lom d’Arce, genannt Baron de Lahontan, ein Forschungsreisender in Neufrankreich, verknüpfte 1705 mit der Figur des „edlen Wilden“, seinem Gesprächspartner aus dem Volk der Huronen, eine radikal sozialkritische und politische Sicht auf die Verhältnisse im alten Europa.“
1705, Adrian.

Damals wurde die Schablone bereits verwendet, um die Zustände im Heimatland zu kritisieren, wo sich die weißen Menschen tummelten; eine Kritik über die Bande also.
Gleiches Spiel mit der feministischen Kritik am Mann – Projektion gesellschaftlicher Zustände auf das männliche Wesen und „Mann“ wird stellvertretend für „Gesellschaft“ gehalten und kritisiert.
Gähn.

Das Konzept des „edlen Wilden“ scheint mir ganz gut zu vielen sozialkonstruktivistischen Theorien zu passen. Wer meint, dass alles konstruiert ist, gerade durch Macht konstruiert ist, der landet schnell bei dem „edlen Wilden“ der frei von diesen Konstruktionen ist, ansonsten bleibt ja nur das reine unbeschriebene Blatt, bei dem niemand gut ist. Der „edle Wilde“ oder Varianten davon wäre insofern ideal für Leute, die eine gewisse Identitätspolitik betreiben wollen, weil sie dann einen „guten Idealzustand“ und jede Abweichung davon verdammen können.

Ich hatte einmal unter Verweis auf Pinker das Modell des „edlen Wilden“ als eines der Erklärungsmodelle für menschliches Handeln dargstellt (neben dem unbeschrieben :

Der edle Wilde: Die Theorie des edlen Wilden geht davon aus, dass das Verhalten des Menschen gut wäre, wenn er nicht durch die Gesellschaft korrumpiert werden würde. Der edle Wilde hat sich diesen Urzustand bewahrt und an ihm kann man ihn teilweise erkennen. Er stellt das Idealbild eines Menschen dar, der seine ursprüngliche Natur hat und durch die Zivilisation noch nicht korrumpiert wurde. Ein Vertreter war beispielsweise Jean-Jacques Rousseau. Die Denkart ist typisch für die Romantik.

Und in der Tat sieht man diese Idealisierung ja in vielen Bereichen der intersektionalen Theorien:

Das Patriarchat oder die weiße westliche Welt haben alles korrumpiert und ohne diese wäre die Welt schön und alle Menschen gut.

Der radikale Islamist wird hier zu jemanden, der eigentlich nur durch den Westen geworden ist, was er ist, an sich aber einer friedlichen und reinen Religion oder Kultur entstammt.

Bei  afrikanisch stämmigen PoCs ist alles der Kolonialismus. Beispielsweise hatte ich neulich in einer Diskussion darauf hingewiesen, dass in Afrika auf Homosexualität in vielen Ländern die Todesstrafe steht und das es eigentlich keine liberaleren Länder gibt als die westlichen. Die Antwort war, dass dies eben auch erst durch den Kolonialismus der Fall ist also der Westen daran schuld wäre und das dieser auch im übrigen das Patriarchat mitgebracht hätte, in Afrika wären viele Stämme durchaus Matriarchate gewesen.

Bei Frauen ist es ähnlich: Das Patriarchat hat ihnen den Kopf gewaschen, ihnen einen internalisierten Frauenhass beschwert ohne den ist frei und glücklich und erfolgreich wären.

Selbst die Männer sind in gewisser Weise „edle Wilde“, das Patriarchat schadet ihnen auch, sie leiden an der Unterdrückung durch sich selbst oder die hegemoniale Männlichkeit oder eben die toxische Männlichkeit, in dem sie Chimärenwesen sind, gleichzeitig Unterdrücker und Unterdrückte, Opfer und Täter und in der sie zurückfinden müssen zur „edlen Art“. Sie müssen eben nur ihre Männlichkeit dafür aufgeben, ihre edle Art liegt insofern außerhalb ihrer Identität und nicht innerhalb.

In den Fettstudies ist dann derjenige (eigentlich nur: Diejenige), der sich keinen Schönheitsideal unterwirft frei von den Einflüssen des korrupierenden Bösen und damit natürlich edel und schön.

Transsexuelle sind da schon etwas schwieriger einzuordnen: sie sind insofern edele Wilde, weil sie zum einen die ihnen „zugewiesenen“ Geschlechterrollen ablehnen, die Korrupiertheit der Einordnung in die festen Rollen nicht akzeptieren, sondern eine nicht zum Körper passende Rolle übernehmen und zum anderen weil sie eben Symbolfiguren gegen eine feste Zuordnung zu sein scheinen, auch wenn sie eigentlich innerhalb der binären Geschlechterzuordnung bleiben. Aber weil sie andere zwingen sie dennoch dem „nicht passenden Geschlecht“ zuzuordnen stiften sie „Gender Trouble“ um es mit Butler zu sagen und das ist es ja was den edlen Wilden in diesen Theorien ausmacht