Ein klassisches Thema im Geschlechterbereich hat viele Namen bzw wird unter vielen Stichwörtern behandelt, von „Nurture vs. Nature“ bis dem „Primat der Biologie“, es geht darum, wie die beiden Felder sich zueinander verhalten. Dabei artet das Thema gern in gegenseitige Vorwürfe aus, das man den anderen nicht ernst nimmt bzw. das der andere unwissenschaftlich arbeitet.
Auf der einen Seit stehen dann häufig Theorien aus den Bereichen der Biologie, der Medizin, der Psycholgie und dem Verbindungsglied, der evolutionären Psychologie, auf der anderen Seite Theorien aus der Soziologie, der Anthropologie, und dem nicht medizinischen Bereich der Psychologie sowie der Philosophie.
Wie es Leser dieses Blogs wenig überraschen wird sehe ich mich eher im Lager derer, die den Verzug im Geschlechterbereich eher im sozialbegründeten Lager sehen.
1. Grundlegendes: Beide sollten die Theorien der anderen prüfen
Ein perfektes wissenschaftliches Arbeiten würde theoretisch erfordern, dass man die auf dem Gebiet vertretenen Ansätze, soweit sie den eigenen Bereich, an dem man forscht, betreffen, prüft und dann ermittelt, welches Modell mit den bestehenden Fakten am besten in Einklang zu bringen ist.
Das ist natürlich in dieser Form oft kaum möglich. Allein schon, weil man sich dann häufig eine umfassende Kompetenz in vielen Bereichen zulegen müsste, wenn eine Spezialisierung in einem bestimmten Bereich effektiver ist.
2. Was ist erforderlich, um die jeweils anderen Theorien gedanklich einzubeziehen?
Das bringt uns zu der Frage, wie tief man jeweils einsteigen muss, um zumindest grundlegend eine Überprüfung durchzuführen, ob Faktoren des jeweils anderen Bereichs hineinspielen.
Und bei dieser „Einstiegstiefe“ hat aus meiner Sicht die Biologie einen erheblichen Vorteil:
Zum einen stehen soziologische Fragen dem Grunde nach weit aus weniger in Konkurrenz zur Biologie als umgekehrt. Die Biologie geht ganz umfassend davon aus, dass´Biologie die Grundlagen liefert, aber das soziale, die Umgebung, die Erziehung, andere Faktoren, natürlich die Ausgestaltung und die konkreten Gesellschaften bewirken. Es ist insofern viel Raum „nach oben“ in denen man bestimmte soziale Faktoren unterbringen kann und freimütig zugestehen kann.
Die sozialen Theorien haben hingegen das Problem, dass sie, wenn sie grundlegende Fragen der Geschlechter betreffen und Theorien nicht nur zu Ausgestaltungen, sondern zu den Grundlagen anstellen, im wesentlichen immer beim „Standard Social Science Model“ landen müssen, wenn sie Biologie nicht einbeziehen.
Auf eine Kurzformel gebracht:
Biologie bestimmt häufig die Grundlagen, wenn sie einschlägig ist und insofern wirken sich Fehler gravierender aus
Das bedeutet, dass Theorien, die die Biologie ignorieren, sich häufig weiter von der Realität entfernen als Theorien, die auf biologischen Grundlagen aufbauen.
Ein Beispiel:
Wenn man als soziales Element schlicht den Kampf um Macht zwischen verschiedenen Gruppen, Mann und Frau annimmt, dann kann man damit bestimmte Strukturen erklären, die wir in der Gesellschaft antreffen, zB Rollenbilder in denen der Mann Versorger ist und die Frau auf die Kinder aufpasst, da dies Frauen dann von bestimmten Jobs ausschließt und der Mann eher Kontrolle über das Geld hat.
Erklärt man das ganze biologisch, dann würde man Erklärungen über sexuelle Selektion auf Status und Versorgereigenschaften anführen, zudem unsere Einordnung als Säugetiere und die damit verbundene stärkere Selektion auf Kinder bei Frauen anführen etc.
Diese Theorie tauscht die Grundlage aus, macht es aber weiterhin möglich, bestimmte soziale Ausgestaltungen als Machtkämpfe zwischen den Geschlechtern zu sehen, beispielsweise die Sexualität der Frauen stark zu reglementieren, aber bei Männern wesentlich großzügiger zu sein oder Frauen
Die soziale Begründung steht und fällt damit mit der Ausgangsthese, die biologische Theorie kann flexibler bestimmte Faktoren der Biologie und andere, insbesondere Ausgestaltungen, der Soziologie zuweisen.
3. Ein Vergleich: Statik und Architektur
Ein interessanter Vergleich scheint mir hier das Verhältnis von Statik und gestaltender Architektur zu sein. Wer eine Brücke bauen will oder erklären will, warum sie auf eine bestimmte Weise erbaut worden ist, der muss für eine zutreffende Theorie eben die Statik mit berücksichtigen, ein reiner „Willensansatz“, der also davon ausgeht, dass die Brücke nur Design ist und den Grenzen der Physik nicht unterworfen, muss zu merkwürdigen Ergebnissen führen. Er mag dann vielleicht ermitteln, dass die Pfeiler, die im Brückenbau vorherrschend sind, Verkörperungen des Patriarchats und Phallussymbole sind oder das das Abspannen mit Seilen aus anderen Designprinzipien kommt, aber hier würde ein „integrierter Ansatz“ (Physik und Gestaltung) wohl von jedem klar denkenden Menschen als vorzugswürdig angesehen werden. Natürlich kann man dennoch reines Design studieren und Brücken nur unter diesem Gesichtspunkt besprechen, sich also über die Ausgestaltungen der Regeln der Physik unterhalten, wenn man dabei aber Theorien aufstellt, die der Statik wiedersprechen („Man sollte Brücken auf andere Weise bauen, die reiner Wille ist“), dann erlebt man schlicht ein Fiasko.
Gleichzeitig sind auch sicherlich bestimmte Ausgestaltungen von zb Brücken reines Design und haben reinen gestalterischen Willen, etwa Brückenverzierungen oder Statuen auf der Brücke oder sie reizen die Grenzen der Physik aus um bestimmte Gestaltungen umzusetzen oder es sind nicht die Gesetze der Physik, die uns daran als erstes in Auge fallen, sondern die schöne Form, aber meist erfordert gerade eine verrückte Form besondere Kenntnisse der Statik und der Materialien und besonders aufwändige Gestaltungen um umsetzbar zu sein.
Wer hier eine Lehre von „reinem Design“ vertreten würde, etwa mit einem Ansatz, dass es keine Gesetze der Statik geben kann, weil es zum einen Pfeilerbrücken und zum anderen Hängebrücken gibt, was deutlich macht, dass man Brücken gestalten kann, wie man will, der würde ausgelacht werden und hätte eben schlicht nicht bedacht, dass man die Gesetze der Physik auf verschiedene Weise umsetzen kann. Und auch hier sind die Erklärungen aus der Statik oft geeigneter, bestimmte Punkte zu erklären: Wenn zb die Tragfähigkeit bestimmter Materialien eine Kräfteabfuhr auf eine bestimmte Weise verlangt, dann erklärt dies bestimmte Elemente einer Brücke besser als „das macht er nur, weil Pfeiler gerade in sind“. Letzeres mag erklären, warum er diese Weise gewählt hat, um die Kräfte abzufangen und wenn er zB mehr Pfeiler genommen hat als auch unter Einplanung einer Reserve erforderlich war, dann wäre das Design, aber die grundlegenden Kräfte zu verstehen, die hier arbeiten, ist eben aus einem reinen Designansatz nicht möglich.
Sollte man hier von einem „Primat der Physik“ sprechen? Es wäre aus meiner Sicht durchaus angemessen: Man kann eine Brücke eben nur innerhalb der Grenzen der Physik gestalten. Bestimmte Designfragen sind davon losgelöst und man muss bestimmte Regeln nicht unbedingt verstehen, um eine Brücke zu bauen, damit bewegt man sich aber nicht außerhalb der Physik. Wer beispielsweise postulieren würde, dass Brückenverzierungen immer Design ist, der sollte versuchen, Verzierungen mit einem Gewicht von zwei Tonnen auf einer Brücke mit einer Tragkraft von einer Tonne unterzubringen.
4. Zurück zur Biologie
Ähnlich wie bei der Statik sind viele Punkte in der Biologie auch schlicht besser beweisbar:
Nehmen wir die Theorie, dass Sexualität ein rein soziales Konstrukt ist, das also in einer anderen Gesellschaft Frauen eher an casual Sex interessiert wären und es männliche Prostituierte geben würde, während Männer nur auf Beziehungen aus wären. Hier kann man schlicht die Forschung zur Wirkung von Testosteron auf den Sexualtrieb entgegenhalten,die evolutionäre Kostenbetrachtung vorrechnen etc. Es ist quasi eine Brückenplanung, bei der man mittels Physik vorrechnen kann, dass sie nicht trägt.
Oder nehmen wir Homosexualität: Auch hier ist eine rein soziale Konstruktion angesichts dessen, dass zB Medikamente, die, wenn sie von einer Schwangeren genommen werden, die Wahrscheinlichkeit der Homosexualität erhöhen, im Endeffekt nicht mehr vertretbar.
Umgekehrt würde ein Experiment, welches soziale Faktoren anführt, die Homosexualität begünstigen, es weitaus schwerer haben: Ist es eine Ausgestaltung, etwa weil heterosexueller Sex nicht verfügbar war oder eher ungewünschte Konsequenzen wie Kinder hatte (wie zB im Gefängnis oder bei den antiken Griechen etc) oder ist es bei einer Erziehung vielleicht auch ein genetischer Faktor? (Werden Kinder, die viele Homosexuelle in der Familie haben eher homosexuell, weil sie dort Toleranz erleben, oder weil entsprechende Gene im familären Genpool vorhanden sind?)
5. Die Einstiegstiefe
Wenn man demnach davon ausgeht, dass die Biologie eher die Grundlagen bestimmt und hier oft bestimmte Faktoren bereitstellt, die weitere Theorien maßgeblich beeinflussen, dann stellt sich auch die Frage nach der jeweiligen Einstiegstiefe.
Da haben Biologen aus meiner Sicht den Vorteil, dass sie für ihren Bereich wesentlich weniger umfangreich einsteigen müssen, damit sie ihre Theorien aufstellen können.
Viele Theorien, aus der Soziologie, die Grundlagen betreffen sind eben einfach erstaunlich platt und verstecken das hinter komplizierten Ausdrücken.
Wenn man zB Judith Butler etwas eindampft, dann ist ihre wesentliche Theorie auch nur, dass die Gesellschaft bestimmte Regeln vorgibt, die dazu führen, dass Leute sich auf eine bestimmte Weise verhalten. Die Einzelheiten der Herleitung über die Urhorde und Spiegelbetrachtungen ist dabei im Endeffekt relativ egal und wird selbst von Befürwortern lieber ausgeblendet und verschwiegen.
Oder Habitus nach Bordieu: Letztendlich geht er auch nur davon aus, dass der Mensch sich in ein bestimmtes System einordnet und sich sein Verhalten nach der Gruppe, die für in in diesem System maßgeblich ist, bestimmt.
Und auch Systemtheorien nach Luhmann beschreiben eher Zusammenhänge zwischen Ausgestaltungen und lassen Platz für Faktoren, die diese Systeme aus biologischen Gründen hervorrufen.
Es reicht also entweder sehr grobe Aussagen anzugreifen oder es ist hinreichend Platz für biologische Faktoren, da die Ausgestaltung thematisiert wird. Dass sich beispielsweise Leute in das Schema einfügen, dass ihrer Gruppe entspricht, ist ja nicht falsch, wir sind eben Gruppen- und Hierarchietiere, denen Zugehörigkeit sehr wichtig ist. Der Widerspruch setzt eben dort ein, wo man annimmt, dass diese Gruppenregeln beliebig sind.
Einen Forschungsunterbau, der harte Fakten liefert, mit denen man sich auseinandersetzen muss, besteht in den meisten Fällen gerade im Geschlechterbereich nicht oder er ist keineswegs inkompatibel mit biologischen Theorien. Beispielsweise muss man die Aussage, dass Vorstände mehr männliche Mitglieder haben, nicht angreifen, man stützt sie nur auf andere Faktoren.
Biologische Faktoren sind wesentlich schwieriger herauszurechnen, da sie weitaus vielfältiger sind: Wir unterliegen einer Vielzahl von Interessen, die nicht einfach auf „Machtansammlung“ und noch weniger auf „Machtansammlung für unsere Gruppe Mann oder Frau“ herunterzubrechen sind. Sondern es kommen eine Vielzahl von Interessen zusammen, die sich teilweise widersprechen, etwa Sicherheit und Statusgewinn, die sich gegenseitig bedingen, wie Partnerwahl und Statusansammlung, die ausgestaltbar sind, aber eben nur innerhalb bestimmter Regeln (Eine Gesellschaft kann auf Monogamie oder Polygamie setzen, beides folgt biologischen Regeln und stellt nur einen anderen Kompromiss zwischen verschiedenen evolutionär entwickelten Präferenzen und den Möglichkeiten sie umzusetzen dar, beispielsweise gibt es eben keine Gesellschaften, in denen weibliche Herrscher sich 200 Männer als Ehepartner in einem Harem hielten und diese durch reine hierarchisch ausgebildete Macht gegen andere Frauen absicherten, hingegen gibt es dies umgekehrt).
Um sich mit den Grundlagen der sozialen Theorien auseinanderzusetzen kann es insofern reichen einen Wikipediaartikel zu lesen. Damit mag man deren Feinheiten nicht verstehen, dass ist aber häufig auch gar nicht nötig. Wenn man zB weiß, dass bestimmte Theorien Homosexualität rein sozial begründen, dann ist dies alles, was man wissen muss, wenn man die biologischen Wirkungen von DES auf Schwangere behandelt und diese Theorie ausschließen will. Wer hingegen einen Spielraum finden will, indem trotz DES Homosexualität rein sozial begründet wird, der muss sich, wenn er es ernsthaft betreiben will, dezidiert damit auseinandersetzen (wenn das erfolgt, dann wäre im Gegenzug eine dezidierte Auseinandersetzung mit dieser Theorie erforderlich, soweit sind wir aber noch nicht)
Der weitere Faktor ist, dass Biologie eher Einzelfragen hat, die gegen bestimmte Theorien sprechen können. Wenn Hormon X eine bestimmte Wirkung hat, die sich auf Verhalten Y auswirkt, dann muss man dies für einen sozialen Ansatz mitberücksichtigen. Wenn Verhalten Y sowohl von Hormon x als auch von sozialen Umständen berücksichtigt wird, dann kann man dennoch Hormon X erforschen ohne sich mit den sozialen Umständen vertieft zu beschäftigen
Sofern in einem Bereich starke Anzeichen dafür vorhanden sind, dass diese sozialen Umständen unterliegen, müsste natürlich auch die Biologie in die Tiefe gehen und sich mit den anderweitigen Theorien auseinander setzen, um zu ermitteln, welche Faktoren nun eigentlich tatsächlich eine Rolle spielen. Übliche Mittel wären Zwillingsforschung und Adoptionsstudien für genetische Grundlagen und gerade im Geschlechterbereich eben auch die diversen Besonderheiten, die verschiedene Hormonstände etc bewirken.
6. Noch einmal in die andere Richtung
Damit will ich nicht sagen, dass die Sozialwissenschaften in dem Bereich nichts beizusteuern haben. Viele Bereiche betreffen eben die Ausgestaltung und auch bei der Ermittlung verschiedener Grundlagen oder der Aufnahme verschiedener Lebensweisen und der Betrachtung verschiedener Kulturen. Ich glaube allerdings, dass es bei der Auswertung der Daten und dem Aufbau der sich daraus ergebenden Theorien nicht ohne die Biologie gehen wird, zumindest wenn sie grundlegend seien sollen. Die Motivationen menschlichen Verhaltens im Geschlechterbereich sind schwer verständlich ohne diese Grundlagen. Alles was eine Neugestaltung oder Visionen für die Zukunft betrifft ist noch viel weniger ohne die biologischen Grundlagen planbar.
Ohne das man versteht, was die Geschlechter in den Rollen hält, ohne die Betrachtung der biologischen Unterschiede, aber auch der einprogrammierten Attraktivitätsmerkmale zum einem und dem Wunsch entsprechendes Signalling für einen hohen Partnerwert betreiben zu wollen auf der anderen Seite wird man eben in dem Bereich wenig nachhaltiges an Theorien aufstellen können und diese Betrachtungen ergeben sich nur bei Betrachtungen unter Berücksichtigung der Biologie und der Evolutionsbiologie.
Das hindert natürlich gleichzeitig nicht andere Regeln zu vereinbaren: Um zB Unterhaltsregelungen oder Zugewinnregelungen neu zu gestalten benötigt man keine biologischen Kenntnisse. Und sicherlich lassen sich auch andere soziale Abhängigkeiten gut erfassen, ohne dort vertieft einzusteigen.
7. Gegenteiliges
Natürlich kenne ich mich lediglich in den biologischen Theorien aus. Insofern mag mein Urteil hier falsch sein. Im Geschlechterbereich sind allerdings die mir bekannten Theorien mit einer sozialen Begründung von der grundlegenden Begründung relativ einfach. Wer bessere kennt, der kann sie gerne in den Kommentaren darstellen oder zumindest auf die entsprechende Wikipediaseite verweisen. Ich hoffe sogar, dass es in diesem Bereich gute Theorien abseits der Gendertheorien gibt, insbesondere wenn sie Ausgestaltungen betreffen.