Es folgt ein Gastartikel von Titiat Scriptor
Wir leben im Patriarchat – immer noch, trotz allem. In den Gesetzbüchern sind gleiche Rechte für die Geschlechter längst verankert, nicht aber in der praktischen Umsetzung.
Im Alltag kämpfen Frauen auch im Jahr 2020 überall noch gegen strukturelle und systematische Benachteiligung. Das ist die Grundannahme feministischer Sozialkritik und zugleich ihre Existenzberechtigung.
Das Patriarchat selbst ist unsichtbar, aber seine Zeichen sind scheinbar allgegenwärtig. Frauen verdienen für dieselbe Arbeit weniger als Männer. Die besten Positionen in Wirtschaft und Politik sind von Männern besetzt, Frauen bleiben unterrepräsentiert. Ganze Berufszweige verschanzen sich gegen den Wunsch der Frauen nach Teilhabe. Das Patriarchat – so könnte man dieses Argument zusammenfassen – ist eine Struktur, die das Handeln der Leute in ungleiche Resultate für Männer und Frauen umwandelt.
Natürlich ist denkbar, dass auch eine Gesellschaft frei von geschlechtsbezogener Benachteiligung ungleiche Ergebnisse hervorbringt – zum Beispiel dann, wenn Männer
und Frauen im Kern unterschiedlich sind und deshalb verschiedene Lebensentscheidungen treffen. Diese Möglichkeit wird im feministischen Diskurs aber als eine Art biologischer Essenzialismus mehr oder minder explizit verworfen.
Möchte man dieser Logik folgen, stößt man unweigerlich im tiefsten Inneren der Patriarchats-These auf die alles entscheidende Frage: Was bewirkt denn eigentlich, dass die Welt trotz vermeintlich gleicher Interessen Männer und Frauen in unterschiedliche Positionen manövriert? Was ist die Ursache, der Antrieb, der Auslöser für Ungleichheit zwischen den Geschlechtern?
Die Antwort, die man üblicherweise auf diese Frage findet, lautet in etwa so: Wir leben
in einer Gesellschaft von Männern für Männer. Die Einstellungen, Werte und Handlungsmuster, die uns von Kindesbeinen an mitgegeben werden, stellen männliche
Bedürfnisse und männliches Verhalten an die erste Stelle. Frauen werden entweder mit einem Achselzucken ignoriert oder aktiv benachteiligt. Es geht, anders gesagt, um frauenfeindliche Vorurteile in den Köpfen der Leute.
Ein aktuelles Beispiel: In ihrem Buch „Down Girl. Die Logik der Misogynie" (2019) beschreibt Kate Manne Frauenfeindlichkeit als integralen Bestandteil westlicher Gesellschaften im 21. Jahrhundert. Von Frauen, schreibt sie, werden Verhaltensweisen erwartet, die männliche Privilegien aufrechterhalten. Rebellinnen gegen das Patriarchat werden vom System bestraft. Männer hingegen profitieren von gesellschaftlicher „Himpathy“ was sinngemäß so viel heißen soll wie ungerechtfertigte
Sympathie für misogyne und asoziale Männlichkeit.
Soweit die Theorie. Wichtiger ist die Forschung. Denn: Ob wir in der oben beschriebenen Welt leben, ist am Ende keine philosophische, sondern eine empirische
Frage: Ist es also empirisch gerechtfertigt, zu sagen, dass bestehende Geschlechtervorurteile so sehr zu Lasten von Frauen gehen und Männer so sehr bevorzugen, dass man die Gesellschaft insgesamt als frauenfeindlich beschreiben
kann?
Was folgt, ist ein Auszug aus der aktuellen sozialpsychologischen und soziologischen Forschung. Alle zitierten Studien haben eines gemeinsam: Sie zeichnen ein Bild von der
Richtung geschlechtsspezifischer Vorurteile in unserer Gesellschaft, das im harten Kontrast zu den oben skizzierten Behauptungen steht. Sie zeigen, dass es zu einfach ist, Frauen als rundherum benachteiligt zu beschreiben.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Was folgt, ist natürlich kein Beleg dafür, dass Frauen nicht an vielen anderen Stellen benachteiligt sein können. Oder dass Frauen in unserer Gesellschaft unter dem Strich weniger benachteiligt sind als Männer. Darum geht es hier im Kern nicht. Es geht um die Frage, wie viele empirische Erkenntnisse, die der Patriarchats-These zuwiderlaufen, man hinnehmen möchte, bevor man die These von der insgesamt misogynen Gesellschaft verwirft oder zumindest infrage stellt.
Was also sagt die Forschung?
Die folgenden Studien können über http://www.doi.org mit den angegebenen Nummern
identifiziert werden.
1. Die Zukunft gehört autonom fahrenden Autos. Aber wie soll der Algorithmus menschliches Leben priorisieren, wenn ein Unfall nicht mehr vermeidbar ist und sich nur noch die Frage stellt, wer sterben muss? Rund 2 Millionen Befragte in einem weltweiten Online-Survey würden mehrheitlich eher männliche als weibliche Unbeteiligte opfern (DOI: 10.2478/nimmir-2019-0015).
2. Die Tendenz, weibliches Leben höher zu priorisieren als männliches ist auch in vielen anderen Kontexten belegbar. In verschiedenen Experimenten zum Umgang mit moralischen Dilemmas werfen die Testpersonen Männer häufiger vor fahrende Züge als Frauen, um Unschuldige zu retten. Sie fügen Männern häufiger und stärkere Stromstöße zu als Frauen. Sie retten Männer seltener von sinkenden Schiffen und helfen ihnen überhaupt seltener in Notlagen (DOI: 10.1177/1948550616647448).
3. Dass aggressives Auftreten das Ansehen von Männern fördert, das von Frauen aber beschädigt, wird immer wieder behauptet. Dazu im Kontrast stehen die Ergebnisse eines Experiments mit unterschiedlichen Aggressionsszenarien. Hier bewerteten die Probanden weibliche Aggression als moralisch akzeptabler als männliche Aggression
(DOI: 10.1023/A:1019665803317).
4. Und wie steht es um negative Stereotype im Berufsleben? Forscher ließen in einem groß angelegten Experiment mit mehr als 800 männlichen und weiblichen Entscheidern MINT-Lehrstühle an Universitäten an fiktive Bewerber vergeben. Bei gleicher Qualifikation wurden Frauen mit einer Präferenz von 2:1 vor Männern eingestellt (DOI: 10.1073/pnas.1418878112).
5. Auch in anderen Bereichen findet sich kein Widerstand gegen die Ausweitung weiblicher Teilhabe am Berufsleben, im Gegenteil. In Experimenten zeigen Probanden eine größere Bereitschaft, männerdominierte Berufe durch politische Maßnahmen für
Frauen zu öffnen als frauendominierte Berufe für Männer (DOI:10.1016/j.jesp.2019.03.013).
6. Eine Untersuchung zeigt, dass Leistungsbewertungen am Arbeitsplatz weniger akkurat sind, wenn die bewertete Person weiblich ist. Offenbar sind Vorgesetzte eher bereit, Bewertungen von Frauen nach oben zu korrigieren als Bewertungen von männlichen Angestellten. Ob man hier von einem Vorteil für Frauen sprechen kann, scheint zumindest fraglich. Das Ergebnis steht aber dennoch im Kontrast zur häufig geäußerten Behauptung, Frauen würden im Berufsleben negativer bewertet als Männer (DOI: 10.5465/ambpp.2016.18003abstract).
7. Selbst in der Bewertung vermeintlich objektiver Forschungsergebnisse lässt sich ein erhebliches gesellschaftliches Wohlwollen Frauen gegenüber aufspüren. Fiktive Studien zu biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern werden von Psychologinnen und Psychologen unterschiedlich eingeschätzt, je nachdem welchem Geschlecht in den Studien positivere Eigenschaften zugeschrieben werden. Eine erfundene Studie, die Frauen größere künstlerische Fähigkeiten und mehr Ehrlichkeit attestiert, wird als relevanter, glaubwürdiger, hilfreicher und weniger schädlich eingeschätzt als dieselbe Studie mit umgekehrten Geschlechtervorzeichen (DOI: 10.1111/bjop.12463).
8. In dieselbe Richtung geht ein Experiment, in dem Probanden fiktive Ergebnisse von Leistungstests bewerten sollen. Erzielen Männer im Schnitt bessere Ergebnisse als Frauen, wird die Testmethode eher als sexistisch, unfair und inakzeptabel gesehen als im umgekehrten Fall (DOI: 10.2139/ssrn.3175680).
9. In einem anderen Experiment zeigen sich die Testpersonen eher bereit, ein wissenschaftliches Fachbuch zu zensieren, in dem Männer evolutionsbedingt als bessere Führungskräfte beschrieben werden als ein Buch mit der entgegengesetzten
Aussage (Quelle: 1).
10. Auch beim Thema antisoziales und kriminelles Verhalten wird Frauen mit mehr Wohlwollen und Verständnis begegnet als Männern. In Surveys erhalten zum Beispiel hypothetische Vergewaltigungsopfer mehr Empathie, wenn der Täter männlich ist. Empathie mit weiblichen Tätern ist dann besonders ausgeprägt, wenn ihr Opfer ein Mann ist. Ganz allgemein erhalten männliche Opfer die wenigste Empathie, besonders von anderen Männern (DOI: 10.1007/s11199-010-9919-7).
11. In einem weiteren Experiment beurteilen juristische Laien die strafrechtliche Relevanz von sexualisierter Gewalt und Zwang je nach Geschlecht der Täter unterschiedlich. Die Taten von Frauen gelten eher als entschuldbar und moralisch akzeptabel als die Taten von Männern (DOI: 10.1891/0886-6708.26.6.799).
12. Lässt man in Experimenten Testpersonen als Jury über das Strafmaß von fiktiven
männlichen und weiblichen Tätern bestimmen, zeigt sich, dass Männer für dieselben Taten schwerere Strafen erhalten als Frauen. Besonders ausgeprägt ist der Unterschied, wenn das Opfer weiblich ist (DOI: 10.1111/j.1559-1816.1994.tb01552.x).
13. Quantitative Auswertungen von tatsächlichen Strafprozessen deuten in dieselbe Richtung. Weibliche Sexualstraftäter erhalten vor Gericht für vergleichbare Taten weniger drastische Strafen als Männer (DOI: 10.1007/s10940-019-09416-x).
14. Auch bei anderen Verbrechen bestätigt sich diese Tendenz: Eine große Auswertung von rund 77.000 Strafprozessen in den USA ergibt, dass Männer für vergleichbare Taten seltener Bewährungsstrafen erhalten als Frauen. Werden Gefängnisstrafen verhängt, sind sie für Männer tendenziell länger als für Frauen (DOI: 10.1086/320276).
Soweit eine Auswahl aus der Literatur. Viele weitere Studien mit ähnlichen Ergebnissen könnten ergänzt werden. Und selbst wenn man auf einzelne Ergebnisse nicht zu viel Gewicht legt und annimmt, dass einzelne Erkenntnisse in Kontrollstudien so nicht reproduzierbar wären, zeichnet selbst dieser oberflächliche Literaturüberblick ein deutlich differenzierteres Bild unserer Gesellschaft als eingangs beschrieben.
Es stimmt: Geschlechterspezifische Vorurteile sind allgegenwärtig. Aber in den oben genannten, durchaus zentralen gesellschaftlichen Fragen lässt sich eine systematische, allgegenwärtige Benachteiligung von Frauen nicht entdecken. Es wäre grundfalsch, daraus zu schließen, dass wir in einer insgesamt männerfeindlichen Gesellschaft leben. Ebenso falsch erscheint aber die Behauptung, dass wir in einer insgesamt frauenfeindlichen Welt zu Hause sind. Einfache Wahrheiten gehen, wie so häufig, am
Kern des Problems vorbei.
Der Autor schreibt unter dem Namen @titiatscriptor auf Twitter über
sozialwissenschaftliche Themen