Paula-Irene Villa und Sabine Hark zu dem Martensteinartikel: „Nüchterne und vorurteilsfreie Gender Studies“

Paula-Irene Villa und Sabine Hark, Genderprofessorinnen, nehmen auch zu der Debatte um den Martensteinartikel Stellung und verteidigen dort die Genderstudies:

Zugleich ist kaum eine Leitdifferenz der Gegenwart derart eng geknüpft an ein biologisches, genauer: biologistisches Verständnis. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts halten wir das Geschlecht für eine unverrückbare, universale und unhintergehbare Naturtatsache, die an einem bestimmten physikalischen Ort der menschlichen Körper angesiedelt sei. Selbst wenn dies stimmte, so ist es doch höchst interessant und erkenntnisreich, sich mit der Geschichte dieser Tatsache zu befassen.

Genau das tun einige in den Genderstudies. Anders als davon auszugehen, dass es Männer und Frauen (qua Genetik, Gebärmutter, Anatomie oder Hirnwindung) an und für sich „gibt“, erforschen sie die historisch konstituierte, kulturell geregelte und subjektiv interpretierte Bedeutung des Geschlechtsunterschieds.

Es ist bereits eine interessante Überleitung. Fangen sie nicht mit „Selbst wenn dies stimmte“ an landen sie dann ohne großartige Beschäftigung mit dem Thema an sich bei der historisch konstituierten und kulturell geregelten Bedeutung des Geschlechtsunterschieds. Was sie dabei leider verschweigen ist eben, das in den Gender Studies eben gerade nicht die Geschichte behandelt wird oder hinterfragt wird. Weil die Ideologie verbietet sich mit biologischen Geschlechterunterschieden neutral zu befassen (sie dürfen wohl überhaupt nur als biologistische Geschlechterunterschiede bezeichnet werden).

Man kann die Frage, ob etwas kulturell konstituiert ist nur nicht erfassen, wenn man die biologischen Theorien nicht kennt.

Aber mal schauen, was sie anführen:

Historische Arbeiten im Feld der Genderstudies stellen etwa fest, dass diese Universaltatsache der biologischen Geschlechterdifferenz sich je nach geschichtlicher Konstellation recht unterschiedlich ausnimmt. „Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks“, schrieb der preußische Mediziner Rudolf Virchow 1848.

Das ist erst einmal recht wenig an Aussage. Natürlich haben die Eierstöcke, die ja auch einen Teil der Hormone produzieren, einiges zu sagen. . Hier fehlt es etwas an konkreten. Mal sehen was noch kommt:

Und die holländische Gesundheits- und Hormonforscherin Nelly Oudshoorn zeichnete nach, wie sich die Idee der „Geschlechtshormone“ allmählich im Kontext alltagsweltlicher Deutungen verselbständigte – und zwar entgegen vielfachen klinischen Evidenzen.

Nelly Oudshoorn greift insbesondere das Verständnis von „männlichen und weiblichen Hormonen“ und dem dadurch erzeugten Geschlechtern an. Es ist eine häufigere Erwiderung gegen biologische Theorien, die auch von Fausto-Sterling und Voss angeführt wird, ich hatte mich hier bereits damit beschäftigt:

Es ist bei evolutionären Vorgängen erst einmal eher zu erwarten als verwunderlich, dass bestimmte Stoffe lediglich Abwandlungen von einander sind. Denn Evolution ist eine Veränderung in kleinen Schritten, die alle aufeinander aufbauen. Es handelt sich bei Körpern eben gerade nicht um Systeme, die einen Designer, einen Erschaffer haben, der neue Elemente auf dem Zeichenbrett kreiieren kann, sondern das Schaffen eines neuen Systems erfordert ein Aufbauen auf dem alten. Aber das bedeutet nicht, dass diese neue Abweichung von einem bisherigen Produkt nicht eine vollkommen neue Bedeutung erhalten kann, die in scharfer Abgrenzung zum vorherigen Produkt steht.

Dass der Hormonhaushalt funktioniert und es schafft bestimmte Hormonkonzentrationen zu halten ist medizinisch meiner Meinung nach nicht zu bestreiten. Jede Frau, die einen regelmäßigen Zyklus, ja überhaupt einen Zyklus hat, sollte eigentlich Beleg genug sein. Eine spontane Umwandlung bestimmter “weiblicher Hormone” in “männliche Hormone” würde diesen Zyklus erheblich durcheinander bringen. Das gilt auf männlicher Seite ebenso: Bei einer “Spontanumwandlung” des Testosterons in Östrogene würde der männliche Körper vollkommen durcheinander geraten.

Ein Mann, der plötzlich den Östrogengehalt einer Frau hätte wäre unfruchtbar. Eine Frau, die plötzlich den Testosterongehalt eines Mannes hätte ebenso.(…)

Natürlich haben Hormone kein Geschlecht. Sie sind einfache Botenstoffe. Aber ihre Botschaften hinterlassen eben gewisse Wirkungen. Diese Wirkungen haben eine Richtung. Und die verläuft bezüglich des Körpers eben bei Testosteron in Richtung Mann und bei Östrogenen in Richtung Frau. Beim Gehirn könnte man dies schon wieder anders sehen. Aber die Veränderungen beruhen zum einen auf den Hormonen und zum anderen sieht man sie nicht so deutlich, wie die körperlichen Auswirkungen.

Ihre Thesen halten einer wissenschaftlichen Überprüfung insoweit auch nicht stand. Hier eine kurze Kritik dazu:

In the first chapter of the book, Oudshoorn argues that the idea that there was only one hormone per sex was later displaced by the observation that both sexes contained both „male“ and „female“ sex hormones. She writes: „This shift in conceptualization led to a drastic break with the dualistic cultural notion of masculinity and femininity that had existed for centuries“ (p. 26). She characterizes this „new model“‚ of the hormonal body as revolutionizing the „biological definitions of sex“: „The model suggested that, chemically speaking, all organisms are both male and female. . . . In this model, an anatomical male could possess feminine characteristics controlled by female sex hormones, while an anatomical female could have masculine characteristics regulated by male sex hormones“ (p. 39).

In my limited research in this field, however, I did not note the kind of shifting paradigm that she identifies here, especially in popularizations of medical literature. It seems to me that in this model there is still a significant binarism that directs the perception of the body. Male hormones cause maleness, female hormones cause femaleness: the chemicals themselves are considered to be reduced versions of the sex itself. Even before the period of her investigations, the 1920s and 1930s, there were perceptions that men could have „female“ attributes and vice versa (late-nineteenth-century sexology is full of them). Oudshoorn wants the chemical conception of sex hormones to have more scientific and cultural power than it really had (or has). The language about relative amounts of „femininity“ and „masculinity“–as measured hormonally in the blood — continues, rather than subverts, established paradigms of bodily sex. This is where Oudshoorn’s disdain of a primarily discursive analysis blurs her usually acute and perceptive vision. Maintaining the biologists‘ terminology of „male“ and „female“ hormones has the effect of erasing (or at least diminishing) the biochemists‘ more transformative conception of the hormonal body.

Wie man daran sieht ist es weniger ein kritisches Hinterfragen in den Gender Studies, sondern schlicht ein Nichtverstehen dieser Vorgänge und ein Festhalten daran, dass man im wesentlichen nur feministische Quellen würdigen muss. Obwohl die Theorien schwach sind, werden sie nach wie vor unkritisch wiederholt und als überzeugende Kritik an der (patriarchalen) Wissenschaft angeführt.

Dass wir von vielen kruden Vorstellungen zur Geschlechterdifferenz heute weit entfernt sind, ist nicht zuletzt ein Verdienst der Genderstudies. Denn diese haben Argumentationen, die Biologie als Schicksal setzen, und die lange auch das (natur- wie sozial- und kultur-)wissenschaftliche Wissen beherrschten, hinterfragt und herausgefordert.

Auch hier werden die Verdienste glaube ich nur bei einer vollkommen falschen Vorstellung der biologischen Theorien und einer fehlerhaften Bewertung der Theorien aus den Gender Studies gesehen. Die immer wieder behaupteten Verdienste der Gender Studies in diesem Bereich gibt es nicht . Die wesentliche Wissenshinterfragung erfolgt in der regulären Forschung, innerhalb derer sich die Theorien weiterentwickeln.

Was gerade durch wissenschaftshistorische Arbeiten in diesem Feld klar wurde, ist, dass die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur mitnichten so offen zutage liegt. Diese erkenntnistheoretisch völlig triviale Einsicht stellt allerdings für viele Journalisten und Kommentatorinnen außerhalb der Wissenschaft offenbar eine schwer zu schluckende Kröte dar.

Es ist indes eine Einsicht, die NaturwissenschaftlerInnen und GeschlechterforscherInnen teilen. Jedenfalls ist es von der Position etwa des Cambridger Neurowissenschaftlers Simon Baron Cohen, der die alte Natur-versus- Kultur-Debatte in Bezug auf Geschlecht als geradezu absurd simplistisch bezeichnet und dafür plädiert, die Interaktion zwischen beidem in den Blick zu nehmen, nicht weit bis zum Plädoyer der in Berkeley lehrenden Philosophin Judith Butler, die Geschlechterdifferenz als jenen Ort zu verstehen, an dem die Frage nach dem Verhältnis des Biologischen zum Kulturellen gestellt werden müsse.

Natürlich gibt es eine starke Interaktion zwischen Natur und Kultur. Kultur wird üblicherweise die biologischen Grundlagen ausgestalten und biologische Motivationen werden innerhalb der kulturellen Möglichkeiten natürlich anders umgesetzt. Wenn man allerdings nur schlicht an biologische feste Verdrahtungen denkt und nicht an bestehende Motivationen und Einstellungen, etwa ein anderes Verhältnis zu Konkurrenz, andere Stressreagionen, ein anderer Wunsch nach Status aufbau und Hierarchiebezogenheit (im Schnitt) dann werden einem die Gemeinsamkeiten, die das Grundgerüst bilden, nicht auffallen. Wer sich beispielsweise mit den Folgen intrasexueller Selektion nicht beschäftigt hat, der man einfach nur den Machtkampf der Gruppe Mann gegen die Gruppe Frau annehmen und dabei wichtige Grundlagen verkennen.

Das Programm, das die Genderstudies daher nüchtern wie vorurteilsfrei verfolgen, besteht folglich genau darin, am Ort der Geschlechterdifferenz die Frage nach dem Verhältnis des Biologischen zum Kulturellen zu stellen. Und zwar sie immer wieder zu stellen, da sie, wie Butler sagt, zwar gestellt werden muss, aber, streng genommen, nie beantwortet werden kann.

Ich möchte den Satz gleich noch einmal wiederholen:

Das Programm, das die Genderstudies daher nüchtern wie vorurteilsfrei verfolgen

Das ist wirklich hinreißend. Ob sie das selbst glauben? Es muss einem doch bewußt sein, dass dieser Studiengang weder nüchtern noch vorurteilsfrei ist.

Es stimmt insoweit auch nicht, dass die Frage des Verhältnisses gestellt wird: Das Verhältnis dort ist ganz klar: Alles Verhalten ist kulturell begründet und die körperlichen Unterschiede lediglich solche des Phänotyps, die sich auf das Verhalten oder das Gehirn nicht auswirken. Gerade Butler sieht diese körperlichen Unterschiede quasi nur für Ankerpunkte, an denen eine kulturelle Unterscheidung fest gemacht werden kann.

Die Aussage, dass die Frage nie beantwortet werden kann, wird dort dazu genutzt, die Biologie vollkommen aus allen Theorien rauslassen zu können. Wäre es anders und man würde wirklich an der Abgrenzung interessiert sein, dann würde man dort die vielen Argumente für biologische Grundlagen diskutieren müssen, ebenso müsste Evolutionsbiologie und evolutionäre Psychologie fester Bestandteil des Lehrplans sein.

Nimmt man also ernst, dass simplistische Natur/Kultur-Debatten in einem falschen Binarismus verfangen sind, so folgt daraus durchaus, dass es Materialitäten (etwa Strukturen des Gehirns, Anatomie, Hormone) geben kann, die bei Männern und Frauen häufiger oder seltener vorkommen.

Das wäre ja schon einmal eine interessant Ansicht. Allerdings wären wir nicht in den Gender Studies, wenn daraus Unterschiede zugegeben würden:

Es folgt daraus allerdings ebenso logisch, dass diese Materialitäten mit sozialen Umständen und Erfahrungen interagieren: So sind Hormone auch von UV-Licht oder der Diät abhängig, sie reagieren auf Angst oder Lust, sie treten je nach Alter einer Person unterschiedlich auf. Und umgekehrt: Hormone beeinflussen Angst und Lust, sie machen Hunger oder müde. Doch Hormone machen ebenso wenig wie bestimmte Hirnstrukturen oder Chromosomensätze Frauen und Männer.

Das zeigt schon einiges an Unwissen. Zum einen haben die Geschlechter über weite Zeiten stark unterschiedliche Hormonspiegel. Der Strohmann, der hier aufgebaut wird berücksichtigt eben nicht die organisierende Wirkung pränataler Hormone und postnataler Hormone zu bestimmten Zeiten, etwa der Pubertät. Diese führen eben im Schnitt auch zu anderen Ausrichtungen des Gehirns, die nicht beliebig sind, auch wenn sie nicht essentialistisch auftreten, sondern eben mit gewissen Schwankungen.

Was es also bedeutet, individuell und gesellschaftlich eine „Frau“ oder ein „Mann“ zu sein, das wird nicht durch eine biologische Essenz festgelegt. Die Berliner Genetikerin Heidemarie Neitzel beschreibt, dass die Untersuchung des Hormonspiegels nicht unbedingt Eindeutiges ergibt. Es gebe Beispiele, wo Androgene wie Testosteron in männlicher Dosierung vorhanden seien, aber von den Zellen nicht erkannt würden.

Dieser Abschnitt ist unsofern unseriös, weil er dem Laien nicht darstellt, dass diese Erkenntnisse ebenso nicht aus den Gender Studies kommen, mit den biologischen Theorien vollkommen kompatibel sind und eher für diese als Argument verwendet werden können .Denn mit dem Nichterkennen von zB Testosteron geht eben einiges einher, von Transsexualität bis  zu einem weiblicheren Verhalten. CAIS, also komplette Androgenresistenz führt eben auch zu einem weiblicheren Verhalten.

Solche Befunde aber belegen nichts anderes, als dass die „Wahrheit des Geschlechts“ seit jeher keine nackte, sondern eine höchst bekleidete Wahrheit ist. Es sind solche Erkenntnisse – Erkenntnisse, die den Alltagsverstand, der zwei und nur zwei eindeutige Geschlechter kennt, erschüttern –, von denen Martenstein und Konsorten nichts wissen wollen. Wie gesagt, wir reden hier von wissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten, die spätestens seit Kants Kritik der reinen Vernunft zum Grundwissen moderner Wissenschaften gehören.

Und auch hier wieder eine Falschdarstellung der biologischen Theorien. Es geht eben nicht um zwei eindeutige Geschlechter, also eine rein binäre essentialistische Betrachtung. Ein weiterer Strohmann wird mehr schlecht als recht zerlegt.

Virchow, Max Planck und Kollegen fürchteten einen möglicherweise sogar irreversiblen Eingriff in die Naturgesetze, sollten Frauen als Gleiche in die Akademie einziehen. Es sei dahingestellt, inwieweit sie dies für eine wissenschaftlich fundierte Aussage hielten oder ob sie sich nur taktisch des wirkmächtigen Diskurses einer naturalisierten Geschlechterdifferenz bedienten, um sowohl eine gesellschaftlich prestigereiche Position zu verteidigen als auch die in der deutschen Professorenschaft damals weit verbreitete Statusangst, die sich als Angst vor der Feminisierung ihres Berufes äußerte, zu bekämpfen. To allow women to be like men would be to risk men becoming like women – so hat die US-amerikanische Historikerin Joan Scott dies für einen anderen Kontext bilanziert.

Was damals befürchtet wurde und ob es die damaligen Theorien prägte hat nur eben keine Auswirkungen auf die heutigen Theorien. Aber natürlich bringt sie einen Machtkampf hinein, denn das ist ja das eigentliche Element der Gender Studies, in denen als Machtkampf umgedeutet wird. Die Machttheorie ist insofern aus meiner Sicht auch nur ein Strohmann.

Spricht aus der Diskreditierung der Genderstudies, inklusive der „Genderfrauen“, nichts als die Angst vor Uneindeutigkeit? Die Kultur, das „Volk“, das Abendland, die Wissenschaft, ja selbst die Natur sind bislang nicht untergegangen an der wachsenden Einsicht darin, dass Gender wesentlich mehr und anderes ist als Eierstöcke oder Hoden. Daran wird sich auch zukünftig wenig ändern, selbst wenn die Genderstudies derart wichtig und einflussreich würden, wie ihnen unterstellt wird.

Eher dürfte aus den Genderstudies die Angst vor dem Anderssein sprechen und der Unwille, Unterschiede zuzugestehen. Das mag daran liegen, dass man dort die biologischen Theorien gar nicht versteht und ihre Flexibilität und ihren wissenschaftlichen Unterbau nicht versteht.

Es wäre schön, wenn der obige Satz, dass die Gender Studies vorurteilsfrei und nüchtern an die Sache rangehen würden. Dann könnte dort in der Tat einiges an interessanter Forschung laufen.

So bleiben sie eine Antiwissenschaft und Ideologie.