Immer wieder kommt in Diskussionen ein Argument , wie das Folgende:
Wenn du eh meinst, dass es nicht klappt, die Geschlechterrollen aufzubrechen, weil alles Biologie ist, dann lass es uns doch einfach mal ausprobieren. Vielleicht klappt es ja und dann haben wir eine bessere Welt. Was kann es schon schaden?
Dagegen lässt sich aber durchaus einiges sagen:
1. Es wurde schon probiert
Umerziehungen wurden immer wieder probiert. Der bekannteste Versuch ist wohl das Kibbuz. Aber auch ansonsten gibt es kein Volk auf dieser Erde, bei dem die Geschlechterollen etwa umgedreht sind. Vielmehr sind die Geschlechterrollen in vielen Grundlagen gleich und dies überall auf der Welt.
Auch geschlechtsneutrale Erziehung hat bisher noch keine wesentlichen Erfolge zu verzeichnen.
2. Wissenschaftliche Ergebnisse legen nahe, dass es nicht klappt.
Eine Vielzahl von Studien legt nahe, dass die Geschlechterrollen einen biologischen Ursprung haben. Ich habe hier bereits ein paar zitiert:
- Congenital adrenal hyperplasia (CAH): Mädchen mit einem pränatal erhöhten Testosteronspiegel zeigen ein männlicheres Verhalten, zeigen ein männlicheres Spielverhalten
- Komplette Androgenresistenz (CAIS): Bei XY-Menschen, die keine funktionierenden Androgenrezeptoren haben, zeigt sich ein weiblicher Phänotyp und ein deutlich weibliches Verhalten.
- “5a-reductase-2 deficiency” (5a-RD-2) und “17b hydroxysteroid dehydrogenase-3 deficiency” (17b-HSD-3) Zwei Fallgruppen, bei der ersten wechseln die Kinder die Geschlechterrollen nach der Pubertät wechseln und die zweite zu Intersexualität führt
- Gendervarianz: Kinder, die zwischen dem Verhalten der Geschlechter hin und her wechseln. Studien legen starke genetische Komponenten nahe. Zudem sind viele der jeweiligen Kinder später Homosexuell
- Alternating gender incongruity (AGI): Eine zeitlich sehr schnell wechselnde Geschlechteridentität („Boy mode/Girl mode“)
- Digit Ratio: Die Fingerlängen können eine (ungenaue) Einschätzung des pränatalen Testosteronspiegels ermöglichen und Übereinstimmungen mit Theorien zu diesem können dann ein weiterer Beleg sein, etwa bei Empathie, Fußball, aber auch allgemein zwischen den Völkern
- Androgenrezeptoren: Verschieden ausgeprägte Rezeptoren wirken sich darauf aus, wie gut pränatales Testosteron erkannt wird, welches sich wiederum auf das Geschlechterverhalten auswirkt
- Transexualität steht in Verbindung mit genetischen Faktoren sowie hormonellen, insbesondere auch den Androgenrezeptoren und bestimmen anderen Prozessen bei der „Formatierung des Gehirns“. Es zeigen sich Unterschiede im Gehirn, bei bestimmten häufiger bei einem Geschlecht auftretenden Krankheiten wie Autismus
- Unterschiede im Gehirn zeigen sich einige, auch in der Struktur, die am besten durch biologische Theorien zu erklären sind
- postnatale Hormone zeigen ebenfalls erhebliche Einflüsse auf das Gehirn, zB auch bei Testosteronpräparaten oder allgemein beim Sexualtrieb
- Körperliche Unterschiede zwischen Mann und Frau sind vielfältig und lassen eine damalige Aufgabenteilung erkennen
- Doping mit Testosteron zeigt deutliche körperliche, aber auch geistige Ergebnisse
- Turner Syndrom und Imprinting zeigen, dass Geschlechterdifferenzen genetisch berücksichtigt werden
- „Claocal exstrophy” macht deutlich, dass eine Erziehung nach dem Phänotyp häufig mit dem Gehirngeschlecht kollidiert
- Asexualität zeigt, dass wir bestimmte Attraktivitätsmerkmale abgespeichert haben und diese nicht rein sozial entstehen.
- Kastration und ihre Folgen passen ebenfalls zum biologischen Modell
3. Wenn man versucht, etwas zu dekonstruieren, was nicht zu dekonstruieren ist, dann hilft man den Leuten nicht, sondern schadet ihnen
Es ist eben kein Experiment, welches keinen Schaden anrichtet. Es ist ein Menschenexperiment, bei dem man um die Geschlechterrollen aufzubrechen teilweise erheblichen Druck aufbaut oder Menschen beeinflusst.
Dagegen wird eingewandt, dass man ja eigentlich keinen Druck aufbaut, sondern nur Freiheiten gibt: Jeder soll sich so verhalten können, wie er will. Das entspricht jedoch nicht den im genderfeministischen Bereich geltenden Theorien, die ja gerade vorgeben, dass bestimmte Geschlechterrollen bestehen, die gerade dadurch Wirksamkeit erhalten, dass die Leute nach ihnen leben und obwohl sie nachteilhaft für die meisten sind nicht aus ihnen rauskommen. Wenn man jeden leben lassen wollte, wie er es will, dann würden eben auch nach diesen Theorien die Geschlechterrollen bestehen bleiben, weil sie immer noch das Denken der Menschen und die Ansicht davon, was normal ist prägen. Deswegen müssen sie dekonstruiert und aufgebrochen werden.
Das dies sehr negativ sein kann wird den meisten deutlich, wenn christliche Fundamentalisten überlegen Homosexualität zu dekonstruieren und jemanden wieder heterosexuell zu machen. Die meisten Menschen sagen in diesem Bereich nicht „Lass sie doch machen, was soll´s, es kann ja nichts passieren“, sondern haben im Gegenteil die Folgen bis hin zum Selbstmord gut vor Augen, die damit einher gehen die eigene Sexualität zu unterdrücken und sich ihrer schämen zu müssen.
4. Das bedeutet nicht, dass alle auf die Geschlechterrollen festgelegt sein müssen.
Dabei geht es nicht darum, dass jeder nach den Geschlechterrollen leben muss. Aufgrund der vorhandenen individuellen Unterschiede auch in der Biologie und den fließenden Übergängen gerade bei hormonellen Ausrichtungen ist innerhalb des biologischen Modells für alle Verhaltensweisen Platz.
Ich würde demnach Toleranz und Verständnis dafür, dass es nicht um eine essentialistische Betrachtungen geht, sondern nur um Häufungen, um Normalverteilungen mit sich überlappenden Trägern und verschobenen Mittelwerten geht. Ich würde die Leute früh über die biologischen Grundlagen der Homosexualität, Transsexualität und die Abweichungen innerhalb der Geschlechter unterrichten. Wer versteht, dass es lediglich kleinere biologische Unterschiede sind und die Leute damit eben auch nicht anders können als sich auf eine bestimmte Weise verhalten, der wird nach meinem Verständnis auch eher Toleranz aufnehmen können.
Ich würde den Leuten vermitteln, wie es zu den Geschlechtsunterschieden kommt und was sich daraus moralisch herleitet, nämlich erst einmal nichts, weil es ansonsten ein naturalistischer Fehlschluss wäre.