Intersektionalismus als Zweckbündnis und „Leid by proxy“

Crumar schreibt mal wieder interessantes zu den intersektionalen Theorien:

Der heutige Intersektionalismus hat mit dem seiner Entstehung weder theoretisch, noch politisch nichts mehr zu tun.
Der damalige Intersektionalismus sollte politisch zu einer Koalition („rainbow coalition“) von farbigen Minderheiten, Frauen und Arbeiterklasse führen – letztere ist draußen und wird mit einer bewusst falschen Zuschreibung als „white working class“ bezeichnet.

Schon damals war die Titulierung von „Frauen“ als „Minderheit“ statistisch ein Witz, aber es machte sich theoretisch gut im Reigen der „Unterdrückten“.
Man muss immer im Kopf haben, die absurd hyperbole Sprache in den USA/angelsächsischen Ländern ist teilweise nicht ins Deutsche übersetzt worden, weil diese Begriffe hier als völlig überzogen und unglaubwürdig empfunden worden wären (s. „rape culture“).
Dazu gleich mehr.

Wenn man sich Taktik und Strategie anschaut, dann ist die erste erfolgreiche „identitäre Bewegung“ tatsächlich die feministische.
Deshalb wird sie so ausgiebig kopiert.
Schaut euch doch mal die Darstellungen in den Zeitungen an: Weil der Anteil der POC in xxx so niedrig ist, deshalb ist yyy nachteilig für POC. Was anders herum heißt: Die Weißen/Männer machen in xxx (Politik/Business/Hochschule usw. usf.) nur yyy für Weiße/Männer.
Es ist haargenau die gleiche (projektiv identitäre) Argumentation.

Frage: War da nicht mal ein gefeierter schwarzer Präsident in den USA, der weltweit als Hoffnungsträger galt und u.a. nur wegen seiner Hautfarbe als Vorschuss gleich den Friedensnobelpreis bekam?
Wer hat den denn gewählt und wiedergewählt?
Die gleichen weißen Rassisten von heute?
Ist es nicht extrem auffällig, wie dieses Kapitel der US-Geschichte verschwiegen wird?
Statt eine Analyse über die enttäuschten Hoffnungen der ersten Identitätspolitik zu bringen hieß und heißt das Rezept „double down“.

Die Theorie der Koalition der „Unterdrückten“ (5 Formen der „Oppression“ existieren laut Marion Young) existiert als politische Koalition nur aus dem Grund, weil sich verschiedene institutionalsierte xxx-studies lange genug um die moralische Vorherrschaft gestritten haben.
Es ist irgendwann zermürbend im Kampf der lesbischen schwarzen Behinderten um die Spitze der Opferpyramide, zumal man immer neue „Unterdrückte“ findet und die alten Ratzfatz -phob irgendetwas sind.

Weil diese „Theorie“ aus keiner Analyse der Sozialstruktur/objektiven Realität stammt, ist ein solches Bündnis, eine solche Koalition naturgemäß nicht lange haltbar.
Es gibt keine gemeinsamen Interessen auf der Basis gemeinsamer Erfahrungen in der Arbeitswelt und der sozialen Welt, sondern es handelt sich um reine Kopfgeburten.

Die Verlockungen, die Solidarität der „POC“ aufzukündigen, weil man als einzelne Gruppe (doppelt Unterdrückte) in einem günstigen historischen Augenblick (s. BLM) doch mehr für sich herausholen könnte ist einfach zu groß.
Prompt wird darauf verwiesen, was einen trennt, nicht was einen verbindet.
Aber genau das ist in dieser Theorie der „partikularen Identitäten“ eben angelegt; ständig auf die Differenzen zu achten und diese zu betonen.

Also der Intersektionalismus als – was hier ja schon auch in und unter anderen Artikeln diskutiert wurde – Kit zwischen verschiedenen Gruppen insbesondere bezogen auf die Streitigkeiten zwischen schwarzen Bürgerrechtlern und Feministinnen. Man musste ein System finden, welches ein Nebeneinander erlaubt. Das ist mit dem Hierarchiesystem und dem Trennen in verschiedene Kategorien und der „Mehrfachdiskriminierung“ ganz gut geglückt. Aber es ist eben eine wackelige Allianz. Weil jeder im Endeffekt dann doch seinen Opferstatus betonen will und Punkte sammeln will.

Und auch Billy Coen schrieb etwas für mich interessantes:

Aber da ist doch schon der grundsätzliche Denkfehler. Kein lebender Schwarzer in den USA hat jemals unter Sklaverei gelitten. Dennoch wird das Ding immer noch knüppelhart aufgeblasen. Zum einen um sich selbst immer noch als das immerwährende Vierfachplusopfer verkaufen und zum anderen Weiße dafür verantwortlich machen zu können, ungeachtet der Tatsache, das kein lebender Weißer in den USA jemals einen Sklaven gehalten hat. Das ist das, was ich gerne als Leid by Proxy bezeichne. Es ist ein ewiges ins Gestern Gegaffe, ein ewiges Aufwärmen uralter Scheiße, für die heute niemand mehr was kann – es sei denn, man hat das Konzept von Erbschuld tief verinnerlicht, was viele Schwarze in den USA nachweislich getan haben – es ist einfach jämmerlich und vor allem für die Beurteilung heutiger Menschen VOLLKOMMEN IRRELEVANT. Dieses immer noch über die Sklaverei Gejammer ist absolut derselbe Scheiß, wie bei uns diese Vertriebenenverbände, die inzwischen der dritten Generation kleiner Kinder einen tiefen Schmerz einimpfen über den Verlust einer „Heimat“, die diese Kinder, wie schon ihre Eltern, in ihrem Leben noch nicht ein einziges Mal gesehen haben. Solch ein Denken steht einem wirklichen Miteinander von Menschen über Länder- wie auch Rassengrenzen hinweg ewig im Weg.

„Leid by proxy“ wäre quasi „Leiden in Stellvertretung“, also die Anführung fremdes Leids als eigenes. Da werden Kritiker eben Anführen, dass zwar die Sklaverei vorbei ist, aber die Folgen noch nicht, und zwar dergestalt, dass Schwarze eben nach wie vor als „weniger wert“ etc angesehen werden, eher arm sind etc. Das gleiche kann für Frauen entsprechend angeführt werden

Aber es erlaubt eben auch Frauen, die eigentlich ein gutes Leben haben „stellvertretendes Leid“ für andere Frauen zu erleben. Sich über die Einschränkungen zu ärgern, die eigentlich aus anderen Entscheidungen kommen. „Historisches Gruppenleid und sein abstrakter Fortbestand“ macht die Gegenwart unerheblich. Die Tochter eines Millardärs, der ihr das Leben finanziert kann dennoch leiden.