Kausalität, Biologie und Evolution

Elmar hat einen Artikel über Prognosen und Erklärungen geschrieben, der irgendwie mal wieder darlegen soll, das biologische Theorien falsch, Biologismus, und geradezu unmöglich sind.

Seine Zusammenfassung lautet:

In den Naturwissenschaften gilt: Erklärungen erzeugen keine Prognosen und Prognosen erklären nichts. Und die Güte einer Erklärung kann auch nicht durch die Treffsicherheit einer Prognose gemessen werden. Argumentformen erzeugen keine Erklärungen, aber Erklärungen ohne Argumente gibt es nicht. Erklärungen benötigen keine Gesetze und keine Kausalaussagen. Der Kausalbegriff ist in der Physik nicht eindeutig, wird aber an alle anderen Naturwissenschaften vererbt. Kausalaussagen oder kausale Prozesse können manchmal, müssen aber nicht immer etwas erklären und eine analysierende Vereinheitlichung allein genügt nicht immer für das Zustandekommen einer Erklärung. Vor allem aber betreffen Erklärungen immer Behauptungen, deren Wahrheit wir bereits mit guten Gründen akzeptiert haben: Erklärungen, die systematisieren, erzeugen zwar ein spezielles Wissen, aber ob es sich wirklich um Erklärungen handelt, messen wir unter anderem in Termen von unabhängig verfügbaren Wissen. Wenn es in den Naturwissenschaften offenbar so überraschend kompliziert ist, welchen Grund haben wir dann zu glauben, daß das Verhalten der Personen so viel einfacher zugänglich ist? Und woher kommen eigentlich die Prognosen in Biologismus und evolutionärer Psychologie, wenn sie nicht von den Erklärungen über die Ursprünge des Verhaltens geliefert werden?

Es kann gut sein, dass ich das Ganze falsch verstehe, es scheint mir aber eine recht willkürliche Aufteilung zu sein, die an den tatsächlichen Gegebenheiten vorbeiredet.

Wenn man Biologie verstehen will, dann muss man zunächst Evolution verstehen. Man muss verstehen, dass es dort um Mutationen und Selektionen geht, dass dieses ein zielloser Prozess ist, der ohne Steuerung auskommt, der aber dennoch unglaublich komplexe Gebilde und Strukturen schaffen kann.

Sie haben beispielsweise unser Gehirn geschaffen, welche unzweifelhaft eine äußerst komplexe Struktur ist.

Soweit werden sicherlich die meisten noch zustimmen.

Jetzt kommt der Punkt, an dem die Philosophen wohl einige Probleme haben:

Dieser Prozess kann Denkregeln schaffen, ebenso wie Vorlieben, instinkthaftes Verhalten, das Unterbewußtsein etc und klassische Formen von Erklärung und Kausalität greifen hier nicht mehr.

Denn es kommt hier zum einen eine zufällige Mutation und zum anderen ein Selektionsprozess zusammen, der nicht so abgelaufen sein muss, der nicht zwingend ist, der auch hätte in eine andere Richtung verlaufen können und der dennoch bestimmten Regeln folgt, die man in einer Ex-Post-Betrachtung, also eine Betrachtung im Nachhinein nachvollziehen und zuordnen kann.

Das Ergebnis dieses Selektionsprozesses kann dabei ein Horn zur Verteidigung sein oder aber auch eine Denkroutine, die zB die Fähigkeiten eines Angreifers zB seine Größe etc in Flucht oder Kampf umrechnet, und das im Verhältnis zu dem, was es zu bewahren gilt (die äußeren Grenzen eines großen Reviers? Der Nachwuchs, der sonst deinem Fressfeind ausgeliefert ist?)

Ich verstehe wie gesagt vielleicht auch nicht die dort aufgemachte aus meiner Sicht sehr theoretische Differenzierung:

Wenn ich weiß, dass ein Hammer zum Schmieden von Schwertern konstruiert worden ist und der andere Hammer dazu, den Kniesehnenreflex zu testen, dann kann ich deswegen natürlich auch eine gute Prognose abgeben, welcher wohl mehr aushält, selbst wenn ich die Hammer nicht gesehen habe.

Ebenso kann ich aus den mir bekannten Daten zur Kostenverteilung menschlicher Fortpflanzung überlegen, wie wohl das Gehirn konstruiert sein wird und daraus Thesen zum Verhalten ableiten. Es ist zB sehr wahrscheinlich, dass das Geschlecht, welches die geringeren Fixkosten  der Fortpflanzung trägt weitaus eher zu „casual Sex“ bereit sein wird.

Oder man müsste genauer formulieren: Das Gehirn wird eher so eingerichtet sein, dass es Gelegenheiten zu Casual Sex als attraktiv wahrnimmt und es wird die Erkennung entsprechender Muster eher mit der Aktivierung von „Belohungsgehirnarealen“ verbunden sein. Diese evolutionär entstandene Bewertungsroutine des Gehirns führt dann dazu, dass dieses Verhalten attraktiver ist und ein entsprechender Handlungsimpuls, dessen Stärke je nach Gelegenheit und anderen Faktoren variiert, schwerer von dem logisch denkenden Teil unseres Gehirns ausgebremst werden kann.

Natürlich sind das erst einmal Theorien, ob sie plausibel sind, kann durch Experimente, Studien etc festgestellt werden.

Dazu gibt es ja auch eine Menge Möglichkeiten: Nahezu jedes „System“ am Menschen kann ausfallen, sei es durch eine Mutation oder eine Gehirnverletzung, solange es nicht für das Überleben wichtig ist. Es gibt Leute ohne Kurzzeitgedächtnis, ohne Langzeitgedächtnis, ohne die Fähigkeit Emotionen zu erkennen oder Entscheidungen zu treffen (weil zB ihr Filter für „wichtig“ und „unwichtig“ nicht funktioniert. Es gibt Leute, die sexuelle Anziehung nicht verstehen oder wie man überhaupt sexuelles Begehren empfinden kann. Es gibt Leute, die unter der Einwirkung von Gehirnverletzungen ihr Verhalten und ihre Persönlichkeit verändern.

Beispielshaft sei hier der berühmte Fall des Phineas Gage angeführt:

Phineas P. Gage (* wahrscheinlich am 9. Juli 1823 in Lebanon, New Hampshire; † 21. Mai 1860 in San Francisco, Kalifornien) arbeitete als Vorarbeiter bei einer amerikanischen Eisenbahngesellschaft bei Cavendish, Vermont, und erlitt dort am 13. September 1848 einen schweren Unfall. Bei einer von ihm durchgeführten Sprengung schoss eine etwa 1,10 m lange und 3 cm dicke Eisenstange von unten nach oben durch seinen Schädel und verursachte einen großen Wundkanal. Die Stange trat unterhalb des linken Wangenknochens in den Kopf ein und oben am Kopf wieder aus (Läsion im orbitofrontalen und präfrontalen Kortex). Während des Unfalls blieb Gage bei Bewusstsein und war auch später in der Lage, über den gesamten Hergang des Unfalls zu berichten. Er überlebte den Unfall, und die Wunden heilten, lediglich sein linkes Auge wurde durch den Unfall irreversibel zerstört.

Der Unfall des Phineas P. Gage ist für die neurowissenschaftliche Forschung von großer Bedeutung: Nach Angaben seines Arztes, John D. Harlow, war er nach wenigen Wochen körperlich wiederhergestellt, und auch seine intellektuellen Fähigkeiten, einschließlichWahrnehmung, Gedächtnis, Intelligenz, Sprachfähigkeit, sowie seine Motorik waren völlig intakt. In der Zeit nach dem Unfall kam es jedoch bei Gage zu auffälligen Persönlichkeitsveränderungen. Aus dem besonnenen, freundlichen und ausgeglichenen Gage wurde ein kindischer, impulsiver und unzuverlässiger Mensch. Dieses Krankheitsbild ist heutzutage in der Neurologie als Frontalhirnsyndrom bekannt.

Gage litt nach dem Unfall immer wieder an epileptischen Anfällen und Fieberschüben, verlor nach einem heftigen Krampfanfall das Bewusstsein und erlangte es nach einer Reihe von weiteren Krämpfen nicht wieder. Er starb am 21. Mai 1860. António Damásio ist der Ansicht, dass er einem Status epilepticus zum Opfer fiel.

1867 wurde der Körper exhumiert. Der Schädel sowie die seinerzeit mitbeigesetzte Eisenstange wurden im Museum der Harvard Medical School ausgestellt. 1994 wurde der Schädel an der Universität Iowa von Hanna Damasio gescannt und am Computer ein Gehirn simuliert, das in diesen Schädel passte. Anhand der Löcher im Schädel konnte so festgestellt werden, welche Hirnareale durch die Stange beschädigt wurden.

Das Frontalhirnsyndrom zeigt eine gewisse Nähe zum „Computermodell“:

Allgemein schreibt man diesen Hirnteilen, die auch als präfrontaler Cortex bezeichnet werden, eine Analyse- und Überwachungsfunktion zu. Daher wurde für ihn auch der Begriff „supervisory attentional system“ (SAS) eingeführt. Es besteht ein dichtes Netzwerk zu vielen anderen Hirnteilen. Auf diese Weise können unterschiedlichste Informationen analysiert, bewertet, „verrechnet“ und die Ergebnisse wieder zurückgesendet werden – ähnlich dem zentralen Prozessor (CPU) eines Computers. Aufgrund der zahlreichen präfrontalen Verbindungen („Projektionen“) zu anderen Gehirnstrukturen können auch Läsionen in anderen Hirnabschnitten zu einem Dysexekutiven Syndrom führen, z. B. Thalamus, kortikale oder subkortikale limbische Strukturen,Basalganglien. (…)

Das Supervisory Attentional System (SAS) ist nicht mehr dazu in der Lage, Handlungen des Menschen flexibel auf neue Situationen einzustellen (kognitive Flexibilität). Das problemlösende Denken und eine vorausschauende Handlungsplanung sind z. T. massiv gestört. Irrelevante (Umwelt-)Reize können nicht mehr von relevanten unterschieden werden. Es findet keine ausreichende Analyse mehr statt. Bei Routinehandlungen dagegen zeigen sich in der Regel keinerlei Probleme. Personen mit einer Schädigung des Frontalhirns sind hier zumeist unauffällig: z. B. Einkaufen von alltäglichen Dingen, Frühstück- oder Abendessenrichten, Wahrnehmen von Arztterminen usw.

Folgende kognitive Störungen können im Rahmen eines dysexekutiven Syndroms auftreten und mit unterschiedlichen Tests erfasst werden:

  • Unzureichende Problemanalyse
  • Unzureichende Extraktion relevanter Merkmale
  • Unzureichende Ideenproduktion (Verlust von divergentem Denken und Einfallsreichtum)
  • Verringerte Wortflüssigkeit und Reduktion der „Spontansprache“
  • Haften an (irrelevanten) Details
  • Mangelnde Umstellungsfähigkeit und Hang zu Perseverationen
  • Ungenügende Regelbeachtung und Regelverstöße (auch im sozialen Verhalten)
  • Einsatz planungsirrelevanter Routinehandlungen
  • Verminderte Plausibilitätskontrollen
  • Keine systematische Fehlersuche
  • Alternativpläne werden kaum entwickelt
  • Handlungsleitendes Konzept geht verloren
  • Schwierigkeiten beim gleichzeitigen Beachten mehrerer Informationen (Arbeitsgedächtnis)
  • Kein „Multi-Tasking“ mehr möglich
  • Handlungskonsequenzen werden nicht vorhergesehen
  • Kein Lernen aus Fehlern
  • Unbedachtes und vorschnelles Handeln (erhöhte Impulsivität)
  • Rasches Aufgeben bei Handlungsbarrieren (reduzierte Beharrlichkeit und Willensstärke)
  • Wissen kann nicht mehr in effektive Handlungen übersetzt werden („Knowing-doing-dissociation“)

Das Faszinierende daran ist auch, dass es zeigt, dass wir einen Teil unserer Tätigkeiten nicht durch „logisches Denken“, sondern quasi auf dem Autopilot unserer Gewohnheiten erledigen und dieser Teil biologisch abgrenzbar ist (ein gutes Beispiel für die „Modultheorie“ der Evolutionsbiologie). Das ist der Teil unseres Gehirns wegen dessen wir uns plötzlich vor einer geöffneten Kühlschranktür finden und uns wundern, dass wir ja gar nichts essen wollten oder bei der wir gedankenverloren von zu Hause losfahren und statt in die eigentlich gewollte Richtung in Richtung der Arbeit abbiegen, weil wir diese Strecke sonst immer fahren.

Ist hingegen eben das „Aufsichtssytem“ gestört, dann denken wir anders. Wir haben keine Willensstärke und folgen unseren unterbewußt errechneten Handlungswünschen. Eben weil unser Gehirn in diesem Moment auf diese Weise funktioniert. Das wäre aber unmöglich, wenn wir nicht ein durch Evolution entstandenes Gehirn hätten, bei dem sich immer mehr entwickelt hat und unsere unterbewußten Wünsche und Handlungsmotivationen immer mehr durch eine Kontrollorgan einer Prüfung unterzogen worden ist, die sich teilweise durchsetzt und ein entsprechendes Handeln verhindert, bei besonders starken Reizen aber eben der Versuchung nicht widerstehen kann. Wir haben eben durch langsame Evolution nicht unsere biologisch vorgegebenen Wünsche und Handlungsmotivationen verloren, wir setzen sie nur intelligenter um und sortieren unvernünftige Wünsche eher aus.

In dem Modell von Elmar wären diese Wünsche, die auf Gehirnroutinen beruhen, die durch Mutation und Selektion entstanden sind, durchaus Erklärungen für unser Handlen („weil Fette und Zucker gute Nährstofflieferanten sind schmecken sie uns gut und das Erkennen solcher Nahrungsmittel, sei es optisch oder durch Geruch und (im Gedächtnis gespeicherten) Geschmack löst daher über den Hunger eine Handlungsmotivation aus“). Wenn aber der entdeckte Schokoriegel gegessen wird, dann würden wir dennoch im Vorfeld keineswegs eine sichere Prognose aufstellen können, dass dieser gegessen wird. Weil wir eben keine simplen Reiz-Reaktion Automaten sind. Eine strikte Kausalität in dieser Hinsicht liegt insofern nicht vor, aber das ist auch nicht erforderlich um solche Faktoren dennoch als wichtige Faktoren im menschlichen Handeln zu bewerten. Wir können gut nachvollziehen, warum uns der Schokoriegel oder das Glas Nutella mehr in Versuchung führt als eine Fenchelstaude oder ein Becher Sand. Unter dem Aspekt, dass wir bestimmte Geschmacks- und Geruchsvorlieben entwickelt haben, die unserem Gehirn mitteilen, dass etwas Nähstoffreich ist, können wir sogar Täuschungen wie Süßstoffe verstehen, auch wenn uns logisch bewusst ist, dass wir unseren Körper gerade täuschen: Wir wollen das Glücks- und Geschmackserlebnis der Süße als sinnentleertes Gefühl und – in der heutigen Zeit – nicht dessen „Nachteile“. Wir können dies verstehen, weil wir verstehen, dass im Rahmen der Evolution kein perfektes System, welches durch Süßstoffe nicht zu täuschen ist, entstehen musste. Es reichte ein damals sicheres System.

Menschliches Verhalten ist insofern nicht verständlich, wenn wir uns nicht mit den unterbewussten Wünschen, Ängsten, Verhaltenssystemen beschäftigen, die evolutionär entstanden sind. Denn diese bilden in vielen Punkten überhaupt erst die Grundlage, auf der wir dann zur Umsetzung scheinbar logische Entscheidungen treffen. Es macht keinen logischen Sinn Sex mit Verhütungsmitteln zu haben ohne Verständnis der Biologie. Es macht keinen logischen Sinn bei diesem Sex mit Verhütungsmitteln einen nach unser Vorstellung attraktiven Partner zu bevorzugen ohne die Biologie. Es  macht keinen Sinn zu lieben, eifersüchtig zu sein, sich zu schämen oder Angst vor Statusverlust und Peinlichkeit zu haben ohne die Biologie. Psychopathen handeln in dieser Hinsicht vielleicht wesentlich logischer, nur nehmen wir dies in unser biologisch bedingten Unlogik nicht als Logik war. Verständlich wird dies alles erst, wenn man die evolutionären Hintergründe des Verhaltens versteht. Das gilt um so mehr im Geschlechterbereich.

Wenn es um Biologie geht, dann muss es insofern auch gar nicht per se um Kausalität im strikten Sinne gehen. Das ist eine viel zu monokausale Betrachtung, bei der nur eine Motviation vorherrscht und umgesetzt wird. Es werden aber beständig verschiedene Motivationen ausgelöst, von dem Wunsch nach Sex verbunden mit dem Wunsch nicht vor anderen abgelehnt zu werden und soziale Abwertung zu erfahren, dem Wunsch Ressourcen zu besitzen und dem Wunsch als großzügig wahrgenommen zu werden. Der Wunsch sicher zu sein und der Wunsch aus der Menge hervorzustechen im positiven Sinne. Nicht nur zwei Seelen wohnen ach in unserer Brust, sondern unsere tatsächliche Handlung ist das Ergebnis einer Vielzahl von Wünschen, Motivationen, Ängsten etc, die aussortiert und logisch bewertet werden, deren Dringlichkeit und Gewicht in dieser Bewertung aber keineswegs rein logisch sein muss, sondern gegebenfalls nur logisch innerhalb unserer Biologie ist (ein normalgewichtiger Mensch verhungert nicht, wenn er einen Tag nichts ist, aber Hunger kann nach einem Tag ohne Essen trotz dieses Umstandes ein sehr hohes Gewicht in der Entscheidung zwischen der Erfüllung verschiedener Motivationen haben, die uns „etwas essen“ als logische Entscheidung erscheinen lässt.

Ist es jetzt von Belang, dass wir die Entscheidung des Menschen nicht sicher vorhersagen können? Aus meiner Sicht nicht. Hier wird schlicht ein Strohmann aufgebaut, der mit bestimmten Begriffen, die auf das Modell nicht passen, eine scheinbar logische Ablehnung dieser Theorien ermöglichen soll.

Was auch wichtig zu verstehen ist: In vielen Punkten wird gar nicht per se auf evolutionäre Erklärungen abgestellt, sondern auf biologische. Wenn Testosteron zB die Risikobereitschaft erhöht, dann wirkt sich das auf das Verhalten aus. Ob das der Fall ist, kann man durchaus schlicht testen. Wie dann die evolutionäre Erklärung dazu ist, das wäre dann noch nicht einmal wichtig.

Das die Biologie unser Denken beeinflusst ist allerdings in der heutigen Zeit wirklich nicht mehr zu leugnen.