Titiat Scriptor zu dem hohen Anteil der Männer an Gewalt und Tötungsdelikten und sozialen Begründungen

Ein sehr lesenswerter Thread:

2| Zunächst ist festzuhalten: @andreaskemper hat mit seiner Beobachtung völlig Recht: Es sind tatsächlich (fast) immer Männer, die solche furchtbaren Massentötungen begehen. Hier die Zahlen zu den USA, wo solche Verbrechen leider mit einer unerträglichen Regelmäßigkeit geschehen.
3| Und auch allgemein gilt: Männer halten quasi ein Monopol auf tödliche Gewalt. Eine riesige Meta-Analyse zu 150 psychologischen Geschlechterunterschieden ergibt: Die Bereitschaft, andere zu töten, ist der größte gemessene Unterschied zwischen Männern und Frauen überhaupt (Q1).
4| Hier die Zahlen: Unterschiede von d>1 gelten als „sehr groß“. Die Zahlt 2,54 bei „Homicide“ steht für einen extremen Gender Gap: ~95% der Fälle sind Männer. Auf Platz 2 der größten Unterschiede folgt dann übrigens „Rape“ (2,32). Wahrlich kein Ruhmesblatt für mein Geschlecht.
5| Wenn mit „Das Problem heißt Männlichkeit“ spezifisch gemeint ist, dass tödliche Gewalt ein fast exklusiv männliches Phänomen ist, dann wüsste ich nicht, wie man dem widersprechen könnte. Nur ist das in der Regel eben nicht gemeint. Und genau da fangen die Schwierigkeiten an.

6| „Das Problem heißt Männlichkeit“ ist eine These über die *Ursache* dieser Ungleichverteilung: Männer, aber nicht Frauen üben demnach tödliche Gewalt aus, weil die männliche soziale Rolle und etablierte maskuline Normen genau das befördern. Das ist eine ganz andere Behauptung.

7| Das klingt provokant, denn wir sind es gewohnt, tödliche Gewalt als extreme Abweichung von der Norm zu sehen, die nur eine kleine Minderheit betrifft. „Das Problem heißt Männlichkeit“ holt sie ins Zentrum sozialer Normen und Identität. Motto: It’s not a bug, it’s a feature.

8| Ich finde so eine These total OK. Sie muss halt zu den Daten passen. *Das* ist das Problem: Ich verstehe nicht, wie man aus der Forschung schließen kann, dass alleine oder im Wesentlichen unterschiedliche Sozialisierung bewirkt, dass fast nur Männer tödliche Gewalt ausüben.

9| Bsp 1: Egal wo, egal wann – tödliche Gewalt ist immer primär männlich. Trotz riesiger Unterschiede z.B. zwischen indigenen Völkern und modernen Industriegesellschaften, trotzdem kommt immer dasselbe Grundmuster heraus? Bsp: länderübergreifende Daten aus einem UN-Bericht (Q2).

10| Bsp 2: Wenn soziale Rollen Männer gewalttätig machen, werden die Unterschiede in Ländern mit hoher Geschlechtergleichheit dann auch entsprechend kleiner? Nein, im Gegenteil: Sie sind dort größer (Q3). Unklar ist, warum. Solche Zahlen passen aber kaum zur Männlichkeits-These.

11| Bsp 3: Was ist mit Tonnen an Daten, die den Einfluss zwischen biologischen Faktoren und Aggression aufzeigen? Evolution? Gene? Geschlechtshormone? Warum finden wir genau dieselben Muster bei Schimpansen (92% der Tötungen durch Männchen) – ganz ohne soziale Rollen? (Q4).
12| Biologische Ansätze sind üblicherweise nicht populär bei Freunden der „Das Problem heißt Männlichkeit“-These. Ironischerweise könnte man mit Verweis auf etwaige inhärente, vorsoziale Geschlechterunterschiede so eine These sogar noch besser vertreten. Aber gut, anderes Thema.

13| Was mich an der These insgesamt am meisten stört, ist die Implikation, dass soziale Normen Männern irgendwie Gewalt gestatten. Wenn ich mir die Gesellschaft ansehe, finde ich lauter Daten, die das genaue Gegenteil zeigen. Zum Abschluss ein paar Beispiele im Schnelldurchgang.

14| Wir finden männliche Aggression weniger akzeptabel als weibliche (Q5). Jungs werden dafür öfter und stärker bestraft (Q6), ebenso bei Haftstrafen für Männer (Q7). Wir sehen bei älteren Kindern weniger Gewalt, weil wir ihnen solches Verhalten *systematisch* abtrainieren (Q8).


15| Wie kann ich schließen, dass Männer *wegen* ihrer sozialen Männlichkeit so oft tödliche Gewalt anwenden? Es gibt min. ebenso viel Grund zur Annahme, dass sie das *trotz* ihrer sozialen Rolle tun. Ein Riesenproblem ist es in beiden Fällen, nur heißt es dann nicht Männlichkeit.

16| Die gute Nachricht ist: Wir können etwas tun. Nichts an diesen Mustern erscheint biologisch oder sozial prädeterminiert. Schauen Sie, wie signifikant westliche Gesellschaften Gewalt schon minimiert haben. Soziale Institutionen, Normen und Praktiken sind dafür extrem wichtig.


17| Vieles ist nötig: Rechtsstaatlichkeit, starke Institutionen, soziale Perspektiven und Chancen, Integration, Prävention und, ja, auch positive männliche Sozialisierung (Q9). Nur: Der alleinige Fokus auf soziale Männlichkeit ist mir empirisch zu wacklig und viel, viel zu eng.

18| Quellen: Q1: doi.org/10.1111/brv.12 Q2: tinyurl.com/2r8xajbp Q3: doi.org/10.1002/ab.217 Q4: doi.org/10.1038/nature Q5: doi.org/10.1023/A:1019 Q6: psycnet.apa.org/record/1975-09 Q7: doi.org/10.1086/320276 Q8: doi.org/10.1017/S01405 Q9: doi.org/10.1177/095679