Pierre Bordieu, der Kampf um Macht und Habitus

Ein interessanter Beitrag zu Bordieu:

Es gibt keine „reinen“, von sozialen, machtstrategischen oder sonstigen Interessen befreiten Geschmacksurteile, wie Kant es uns einst weismachen wollte. Kunst und Kultur, egal wie erhaben, verfeinert und „zweckfrei“ sie daherkommen, werden niemals nur „um ihrer selbst willen“ geschätzt. Unser vermeintlich individueller Geschmack, so Bourdieu, ist letztlich alles andere als Ausdruck unserer Individualität, sondern entscheidend im sozialen Milieu, dem wir angehören, verankert. Wobei hier mit „Geschmack“ nicht nur Musik- und Lektürepräferenzen gemeint sind, sondern auch Dinge wie Ernährungsgewohnheiten, Bekleidungsstil, Freizeitverhalten und letztlich auch moralische und weltanschauliche Überzeugungen. Hinter jeder noch so harmlos daherkommenden Alltagsroutine oder Konsumentscheidung wie etwa Frau D.s Entschluss, sich eine graue Wohnzimmercouch zu kaufen („bei dem Farbton kann man sich getrost draufsetzen“), scheint die hierarchische Gesellschaftsstruktur durch.

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Zunächst einmal ist der Habitus für Bourdieu das Produkt der Geschichte und milieuspezifischen Prägung einer Person. Habitus ist „Natur gewordene Gesellschaft“, die dem Menschen buchstäblich in die Knochen fährt, um all seine geistigen und körperlichen Ausdrucksformen zu prägen.(…)

Der Habitus ist nicht nur maßgeblich dafür, wie ein Mensch seine Umwelt wahrnimmt, wie er handelt und wie er sich selbst verortet. Sondern auch dafür, wie ein Mensch von seiner Umwelt wahrgenommen, behandelt und verortet wird. Als eine Art Stallgeruch ist der Habitus ein System von Möglichkeiten, vor allem aber eines von Grenzen. „Wer den Habitus einer Person kennt, der weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist“, meint Bourdieu. Sag mir, was du trägst, hörst, kaufst, isst, und ich sag dir nicht nur, wer du bist, sondern auch, ob aus dir noch etwas werden kann.

Im Wesentlichen unterscheidet Bourdieu drei Ausprägungen des Klassenhabitus. So bringt, erstens, der Habitus der Oberschicht einen Geschmack beziehungsweise eine Alltagspraxis hervor, bei der sich alles um Luxus, Verfeinerung und Distinktion dreht. Neben allen offenkundigen Privilegien nimmt man sich hier auch noch das Vorrecht heraus, die eigenen Upperclass-Vorlieben zum „legitimen“ Geschmack zu erklären. Bourdieu zufolge geschieht das, indem man die soziale Bedingtheit des Geschmacksurteils verleugnet und Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Der Hut, den Jackie Kennedy-Onassis trug, während sie im Blitzlichtgewitter einem Flugzeug entstieg, wurde umgehend als Modeklassiker kanonisiert. Ob man nun zur Schicht der herrschenden Trendsetter gehört, ist für Bourdieu keine ausschließliche Frage des Geldes. Neben dem ökonomischen Kapital, um das sich bei Marx noch alles drehte, spielt in Bourdieus Klassenkampf-Szenerie das „kulturelle Kapital“ (Bildung, akademische Titel, einwandfreie Tischmanieren) eine entscheidende Rolle. Es ist eine der wirksamsten Waffen, um eine gesellschaftliche Machtposition zu festigten, zu verteidigen oder sie sich zu erstreiten. Der Klassenkampf ist für Bourdieu stets auch ein Kampf um Anerkennung und Mitbestimmung der öffentlichen Meinung.

Wer weder über die eine noch die andere Kapitalsorte verfügt, muss sich anderweitig behelfen. Das gilt für den typischen Unterschichtshabitus, der den „Geschmack der Notwendigkeit“ hervorbringt. Funktionalität und Praktikabilität sind gefragt. Bedürfnisse wollen befriedigt, nicht verfeinert werden. Schön und erstrebenswert ist, was unmittelbaren Nutzen oder spontanes Vergnügen verspricht. Die Grenze zwischen Hedonismus und Exzess verläuft ießend. Fast-Food-Orgien kombiniert mit Alkohol- und Nikotinsucht sind zu plakativen Symbolen dieses Habitus’ geworden. Die Freuden des Augenblicks sind tatsächlich unendlich verlockend, wenn die Zukunft aussichtslos erscheint. Hinzu kommt: Ganz unten auf der gesellschaftlichen Stufenleiter wirkt sich eine generelle Eigenschaft des Habitus, amor fati genannt, besonders tückisch aus. Damit ist jene eigentümliche Schicksalsergebenheit gemeint, die dazu führt, dass man „mag, was man hat, weil man hat, was man mag“. Man neigt dazu, sich abzufinden. Aus Nöten macht man Tugenden, dazu zählt auch die demonstrative Verachtung, mit der ein Hauptschüler das Bildungssystem mitsamt der von ihm produzierten Weicheier (Gymnasiasten, Studenten) abstraft. So bleibt man seiner Herkunftsschicht verhaftet und überlässt das Bildungsprivileg den Bessergestellten.

Entgegen einem zählebigen Vorurteil hat Bourdieu nie bestritten, dass es sozialen Aufstieg tatsächlich gibt, nur zahlt man dafür einen hohen Preis. Er geht dieser Frage in den „Feinen Unterschieden“ vor allem am Beispiel der mittleren Gesellschaftsschicht nach – dem Kleinbürgertum, zu dem er Handwerker, kleine Unternehmer und Grundschullehrer zählt. Der kleinbürgerliche Klassenhabitus – idealtypisch von Frau D. verkörpert – bringt einen eißigen, strebsamen, in jeder Hinsicht bescheidenen Menschenschlag hervor. Ehrfurchtsvoll schielt man nach oben, panisch grenzt man sich nach unten ab, um das kleine bisschen Wohlstand, das man sich so hart erarbeitete hat, nicht zu gefährden.

Nicht viel besser geht es jenen, die durch den Zugewinn von kulturellem Kapital zum Klassenüberläufer werden. In dem Kapitel „Der Autodidakt und die Schule“ skizziert Bourdieu die Irrungen und Wirrungen des Bildungsaufsteigers. Dieser zeichnet sich durch grenzenlosen Respekt aus gegenüber allem, was als „Kultur“ daherkommt, durch Akribie und übertriebene Ernsthaftigkeit, durch die Unfähigkeit, zwischen „wichtigen“ und „unwichtigen“ Kenntnissen zu unterscheiden. Er läuft folglich stets Gefahr, „zu viel oder zu wenig“ zu wissen. Vor allem aber hat er keine Ahnung vom Recht aufs Nicht-Bescheid-Wissen, das sich ein Professorensohn ganz selbstverständlich herausnimmt.

Bourdieu wusste, wovon er sprach. Er – Sohn eines Hilfsarbeiters, der sich zum Postbeamten hochgearbeitet hatte – schaffte es gegen alle Wahrscheinlichkeiten durch das elitäre französische Schulsystem bis ganz an die Spitze der akademischen Welt. In der Folge hatte er unter dem gespaltenen Habitus (habitus clivé) zu leiden, der alle rasanten Aufsteiger befällt. Als junger Mann plagten ihn Schuld- und Verrätergefühle, weil er an den Pariser Elite-Kaderschmieden den bildungsseligen „Müßiggang junger Bürgersöhne geteilt“ hatte. Selbst als unangefochtene Größe im intellektuellen Establishment fühlte er sich diesem niemals zugehörig.

Die Gesellschaft heute ist eine andere als die französische der 1960er-und 1970er-Jahre, die in den „Feinen Unterschieden“ nach allen Regeln der soziologischen Kunst auf ihre geheimen Machterhaltungsstrategien hin durchleuchtet wird. Die Trennmauer zwischen „legitimer“ Hochkultur und der einst von oben naseberümpften populären Kultur ist porös geworden. Das Bewertungsmonopol hat heute keine soziale Schicht, kein Experte mehr inne. Der traditionelle Bildungskanon hat drastisch an Verbindlichkeit eingebüßt. Ehedem Hochkulturelles wird heute umstandslos popularisiert, durch Hobbytenöre beispielsweise, die in Castingshows Verdi-Arien schmettern. „Populäres“, das in Seriengestalt auf Netflix läuft, wird zum Gegenstand intellektueller und akademischer Betrachtungen. Der Lebensstil der mittleren Schichten ist selbstbewusster und selbstbezüglicher geworden. Street-Credibility gilt als schick. Ganz generell hat Bourdieus Grenzziehung zwischen den gesellschaftlichen Klassen an Bedeutung verloren. Nicht etwa, weil Ungleichheiten seither verschwunden wären. Allerdings verlaufen sie heute entlang anderer Trennlinien. Verantwortlich für diese Frontverschiebung sind etliche Ereignisse und Effekte, die sich pauschal unter dem Stichwort „Globalisierung“ zusammenfassen lassen. Dennoch wäre nichts falscher, als Bourdieu in die Mottenkiste der Theorie zu stecken. Nach dem Schriftsteller Didier Eribon, der seine autobiogra sche Analyse „Rückkehr nach Reims“ (2009) in die Tradition seines Lehrers Bourdieu stellt, hat unlängst auch die Soziologin Cornelia Koppetsch nachgezogen. In ihrem Buch „Gesellschaft des Zorns“ (transcript, 2019) befasst sie sich mit dem Phänomen des grassierenden Rechtspopulismus. So diagnostiziert Koppetsch einen Klassenkampf, allerdings keinen, der sich primär zwischen Arm und Reich abspielt. Es geht um den neuen Klassenkampf zwischen „liberalen Kosmopoliten“ und selbst ernannten oder tatsächlichen Globalisierungsverlierern. Zu Letzteren zählt beispielsweise der Familienvater, der mit der Entwertung des traditionellen Männlichkeitsideals nicht klarkommt, der Hölderlin-Experte, der seinen Prestigeverlust im globalisierten Wissenschaftsbetrieb betrauert, oder die Ostdeutsche, die ihre Biogra e entwertet sieht. Der Kampf zwischen liberal-weltoffenen und rechten Protest- und Überzeugungswählern ist – hier schließt Koppetsch explizit an Bourdieus Habitusbegriff an – immer auch ein Kampf um die Aufwertung des eigenen Lebensstils, um Deutungsmonopole, um kulturelles und symbolisches Kapital. Selbstverständlich geht es auch um ökonomische Verteilungskämpfe, aber eben nicht ausschließlich. Damit wird der beliebte Erklärungstrend entkräftet, dem zufolge AfD, Trump und Co. nur deshalb so erfolgreich seien, weil sie sich als „Anwälte des kleinen Mannes“ für jene einsetzen würden, die seit der Flüchtlingskrise unter massiver Elendskonkurrenz zu leiden hätten.

Ich fand den Text interessant, weil er einige Ideen von Bourdieu noch einmal zusammenfasst und auch auf die „Aktuelle Lage“ übertragen möchte.

Die Ideen selbst – alles als Kampf um Macht anzusehen ist ein sehr einfaches Bild, welches für mich wenig überzeugend ist. Sicherlich haben Menschen ein Interesse an Macht, aber sie führen es nicht per se als Gruppenkampf und sie haben auch an vielen andern Dingen noch Interesse, die dabei unter den Tisch fallen

Was auch nicht beachtet wird ist natürlich die menschliche Natur.

Vergleiche auch: