Tugendfuror, Aufschreiaktivismus und Astroturfing

Eine interessante Auswertung der Aufschrei-Kampagne findet sich im Spiegel:

In Wahrheit ist mancher Sturm nur ein Stürmchen, was bei aller Selbstreferentialität des Mediums in der Regel doch lieber ungesagt bleibt. Wer sich die Mühe macht, einmal nachzusehen, wie viele Leute sich tatsächlich an den in Rede stehenden Debatten beteiligen, stellt schnell fest, dass die Zahl oft nicht einmal ausreicht, um den bei herkömmlichen Protesten beliebten Platz vor dem Brandenburger Tor zu füllen.

Im SPIEGEL gab es kürzlich eine interessante Grafik zu dem ersten Twittersturm, der die Sexismusdebatte in Gang setzte und vielen nun als Beweis für die Bedeutung dieser neuen sozialen Bewegung gilt. Von den 80.000 Tweets, die in den ersten fünf Tagen abgesetzt wurden, waren 30.000 Retweets, also Weiterleitungen bereits gesendeter Mitteilungen. Zu den am meisten weiterverschickten Nachrichten gehörte der Spruch: „Meine Frau wollte auch etwas zu #aufschrei twittern. Das W-Lan reicht aber nicht bis in die Küche.“

Auch der Bundespräsident findet die Aufregung wohl übertrieben:

„Wenn so ein Tugendfuror herrscht, bin ich weniger moralisch, als man es von mir als ehemaligem Pfarrer vielleicht erwarten würde.“ Mit Sicherheit gebe es in der Frauenfrage noch einiges zu tun. „Aber eine besonders gravierende, flächendeckende Fehlhaltung von Männern gegenüber Frauen kann ich hierzulande nicht erkennen.“

Mitunter gewinnt man den Eindruck, dass das Lostreten der Aufregung weniger eine Frage von Tugend ist als vielmehr die Erkenntnis, dass man damit Druck ausüben kann, Aufmerksamkeit produzieren kann und damit auch sich selbst ins Gespräch bringt. Mit der #Aufschrei-Debatte haben sich Laura Dornheim und Anne Wizorek über Twitter hinaus bekannt gemacht. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass sie nunmehr über Aufruhr gegen ein T-Shirt beim Otto Versand eine weitere Kampagne nachzuschieben.

Solche künstlichen Kampagnen, die eine große öffentliche Beteiligung vortäuschen sollen, nennt man Astroturfing:

Der Begriff Astroturfing, auch Kunstrasenbewegung, bezeichnet – insbesondere im US-amerikanischen Sprachraum – politische Public-Relations- und kommerzielle Werbeprojekte, die darauf abzielen, den Eindruck einer spontanen Graswurzelbewegung vorzutäuschen. Ziel ist es dabei, den Anschein einer unabhängigen öffentlichen Meinungsäußerung über Politiker, politische Gruppen, Produkte, Dienstleistungen, Ereignisse und ähnliches zu erwecken, indem das Verhalten vieler verschiedener und geographisch getrennter Einzelpersonen zentral gesteuert wird.

Weitere solche künstliche Kampagnen zu starten ist das Mittel um zum einen den Feminismus und seine Notwendigkeit wieder zu einem Thema zu machen und moralisches Kapital anzusammeln. Man kann sich selbst in den Mittelpunkt rücken, indem man solche Kampagnen startet.

Wie sehr dieses Aufsteigen anderer Personen bisherige „Größen“  stört, sieht man gut an diesem Artikel von Nadine Lantzsch über Anne Wizorek:

heute fiel mir ein, dass sich die person, die ich vor ein paar tagen noch anerkennend im blog erwähnte und jetzt als “gesicht einer neuen feministischen bewegung” bezeichnet wird, sich vor etwa einem jahr an einer von typen initiierten sexistischen hetzkampagne gegen meine person (stellvertretend für all die radikalen feminist_innen wahrscheinlich) beteiligte. die hetzkampagne re_produzierte nebenbei krasse rassismen, die irgendwie irgendwann untergingen, weil es dann nur noch um persönliche beleidigungen ging, was wiederum auch sexismus zu einem machtverhältnis macht, das in der vorstellung vieler weißer menschen nur weiße frauen trifft. was wiederum auch rassismus re_produziert. neben all den sexismen.

heute fiel mir ein, dass diese person in der slutwalk-orga von 2011 in einer pressemitteilung homophobie durch sexuelle neigungen ersetzte, weil homophobie als wort “zu kompliziert” sei.

„Diese Person“ macht deutlich, welche Verbitterung über dieses Aufsteigen vorhanden sein muss. Gerade eben hat sie noch selbst den Umsturz geleitet, jetzt sinkt ihr Stern schon wieder dank eines neuen Aktivismus, der weniger redet, sondern medienwirksame Aktionen startet. Gerade hatte man den Feminismus auf die Rassismus und „critical whiteness“ Schiene umgebogen, da wird er auch schon wieder in die andere Richtung umgeleitet.