Das Paradox der Toleranz

Von Karl Popper:

Unlimited tolerance must lead to the disappearance of tolerance. If we extend unlimited tolerance even to those who are intolerant, if we are not prepared to defend a tolerant society against the onslaught of the intolerant, then the tolerant will be destroyed, and tolerance with them. In this formulation, I do not imply, for instance, that we should always suppress the utterance of intolerant philosophies; as long as we can counter them by rational argument and keep them in check by public opinion, suppression would certainly be most unwise. But we should claim the right to suppress them if necessary even by force; for it may easily turn out that they are not prepared to meet us on the level of rational argument, but begin by denouncing all argument; they may forbid their followers to listen to rational argument, because it is deceptive, and teach them to answer arguments by the use of their fists or pistols. We should therefore claim, in the name of tolerance, the right not to tolerate the intolerant. We should claim that any movement preaching intolerance places itself outside the law, and we should consider incitement to intolerance and persecution as criminal, in the same way as we should consider incitement to murder, or to kidnapping, or to the revival of the slave trade, as criminal

Von der deutschen Seite zum Paradox der Toleranz:

Der Philosoph Karl Popper beschrieb das Paradoxon zuerst 1945 in seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1.[1]

Als intolerant definiert Karl Raimund Popper einen Menschen oder eine Gruppe nach folgenden Eigenschaften:

  1. Verweigerung eines rationalen Diskurses.
  2. Aufruf zur und Anwendung von Gewalt gegen Andersdenkende und Anhänger anderer Ideologien.

Bei intoleranten Menschen unterscheidet Popper zwei Kategorien:

  1. Intoleranz des ersten Grades: intolerant gegenüber den Sitten und Gebräuchen eines Menschen, weil sie fremd sind.
  2. Intoleranz des zweiten Grades: intolerant gegenüber den Sitten und Gebräuchen eines Menschen, weil diese intolerant und gefährlich sind.

Eine universelle Toleranz lehnt Popper daher ab:

„Weniger bekannt ist das Paradoxon der Toleranz: Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“

Da wir als Menschen jedoch nicht fähig seien, die wahren Motive unserer Gegenüber zu kennen, stelle sich nun ein fundamentales, unauflösbares Problem: Einem Außenstehenden sei es schwer möglich zu unterscheiden, ob ein Mensch, der sich intolerant äußert, zum ersten oder zweiten Grad gehört.

Die Anwendung von Intoleranz im Namen der Toleranz sollte entsprechend vorsichtig und nur als Ultima Ratio stattfinden.

„Damit möchte ich nicht sagen, dass wir z. B. intolerante Philosophien auf jeden Fall gewaltsam unterdrücken sollten; solange wir ihnen durch rationale Argumente beikommen können und solange wir sie durch die öffentliche Meinung in Schranken halten können, wäre ihre Unterdrückung sicher höchst unvernünftig. Aber wir sollten für uns das Recht in Anspruch nehmen, sie, wenn nötig, mit Gewalt zu unterdrücken, denn es kann sich leicht herausstellen, dass ihre Vertreter nicht bereit sind, mit uns auf der Ebene rationaler Diskussion zusammenzutreffen, und beginnen, das Argumentieren als solches zu verwerfen; sie können ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente – die sie ein Täuschungsmanöver nennen – zu hören, und sie werden ihnen vielleicht den Rat geben, Argumente mit Fäusten und Pistolen zu beantworten.

Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels.“

Im Einzelnen sehr schwierig in der Anwendung. Der Intolerante wird sich meist im Recht sehen und darauf abstellen, dass die Gegenmeinung die eigentlich intolerante ist, gegen die man nicht tolerant sein darf.

Das ist insbesondere dann leicht möglich, wenn bestimmte Positionen eben nicht wirklich zu vereinbaren sind, jedenfalls nicht für die Radikalen.

Die Transdebatte scheint sich mir in die Richtung zu bewegen:

Die eine Seite ist Tolerant, indem sie jeden das sein lässt, was sie sein will („Eine Transfrau ist eine Frau“), aber intolerant was Leute betrifft, die andere Kriterien für die Bestimmung was eine Frau ist ansetzen

Die andere Seite sieht sich als Bewahrer von Schutzrechten insbesondere von Frauen („wir müssen Frauen zugestehen, dass sie in bestimmten Räumen keine Männer wollen, da müssen Transfrauen tolerant sein, weil sie eben körperlich Männer sind“).

Und auch sonst ist die Geschlechterdebatte ja geprägt davon, dass sich beide Seiten gerade auf Wissenschaft berufen. Die eine Seite auf Gender Studies und Co. Die andere Seite auf Biologie etc.

Um so ideologischer die Debatte ist um so schwieriger wird es sich hinzusetzen, die Argumente in der Wissenschaft wirklich auszuwerten und Intoleranz zu definieren.

31 Gedanken zu “Das Paradox der Toleranz

  1. Es passt eigentloich sehr schön zu dem ,was wir zuletzt unter „Colorblindness“ diskutiert haben: Muss man Rassismus tolerieren, wenn er von Farbigen oder irgendwelchen anderen Opfern kommt?

    Popper, der auf dem Boden der Aufklärung steht, würde sagen: Nein.

    • Dafür braucht man aber kein Popper und diese Einsicht bestand auch schon mal. Intersektionale und ihr Einfluss an Universitäten haben dafür gesorgt das diese Einsicht bei einigen Menschen verschwunden ist und die müssten dieses falsche intersektionale Wissen eigentlich wieder verlernen.

      • „und diese Einsicht bestand auch schon mal“

        Da widerspreche ich. Im Grunde genommen sind wir alle immer davon ausgegangen, dass nur Weiße rassistisch und intolerant sein können, weil wir

        1. bis vor kurzem in einer ethnisch weitgehend homogenen Gesellschaft gelebt haben, und daher keinen Vergleich hatten
        2. die europäische und deutsche Geschichte impliziert, dass nur Weiße schlimme Dinge gegen andere Ethnien getan haben (Sklaverei, Kolonialismus, Holocaust, etc.)

        Die These, dass Weiße eine Erbschuld abzuarbeiten hätten, ist älter als die woke Ideologie.

  2. „Die Transdebatte scheint sich mir in die Richtung zu bewegen“

    Du meinst „noch weiter“ oder?

    „Und auch sonst ist die Geschlechterdebatte ja geprägt davon, dass sich beide Seiten gerade auf Wissenschaft berufen. Die eine Seite auf Gender Studies und Co. Die andere Seite auf Biologie etc.“

    Der Unterschied hier ist das Gender Studies Behauptungen aufstellen und diese immer wieder wiederholen, aber nicht belegen und die richtigen Wissenschaften diese Behauptungen aufgreifen und i.d.R. widerlegen.

  3. Um so ideologischer die Debatte ist um so schwieriger wird es sich hinzusetzen, die Argumente in der Wissenschaft wirklich auszuwerten und Intoleranz zu definieren.

    Es fällt mir sehr schwer, den wissenschaftlich relevanten Aspekt beim immer weiter ausufernden Gender-Bohei zu finden.
    Natürlich versuchen alle Seiten, sich irgendwie auf Ratio und Wissenschaft zu berufen. Aber der Kern ist doch rein subjektiv und emotional.

    Irgendwer gibt an, sich ungerecht behandelt zu fühlen. Diese Unpässlichkeit und die daraus abgeleitete Ungerechtigkeit sind doch die zentralen Punkte – und nicht wissenschaftliche Erkenntnis. Das Ungerechtigkeitsempfinden objektivierbar zu machen, führt lediglich zu solch abstrusen numerischen Strampeleien wie der Berechnung des Gender Pay Gaps. Zum Malen nach Zahlen.

    Auch der Toleranzbegriff macht einen schwammigen Eindruck. Wo beginnt denn Toleranz, und wo endet sie? Ist es tolerant, wenn jeder jeden anfummeln darf? Oder ist es intolerant gegenüber dem Individuum, das vielleicht nicht angefummelt werden will?

    Ist es tolerant, dass jeder einmal im Jahr seinen Vornamen und sein Geschlecht ändern kann? Wie tolerant ist es hingegen, dass derjenige ein Bußgeld berappen muss, der den Geänderten weiter mit dem alten Vornamen anspricht?

    Toleranz ist doch immer selektiv. Meiner Meinung nach beginnt sie immer beim Individuum und seiner Abgrenzung von der Außenwelt. Und damit ist sie inviduell und nicht objektivierbar.

    „Toleranz“ hört sich aber so als Begriff schon cool an.

    • Im Grunde genommen dreht sich ja die gesamte Trans-Debatte um Frauen. Es geht um Menschen, die sich Frauen halten, um die Folgen für den Frauensport und weibliche Klos.

      Von Frauen, die sich für Männer halten, spricht kaum jemand. Ein Mann zu sein, bedeutet halt nicht viel. Eine Frau zu sein dagegen schon.

      • Klar, denn nur da gibt es Privilegien, die jetzt wanken. Was auch wieder ein Beleg ist, wie emotional das Thema im Kern ist. Denn jede feministische Frau müsste eigentlich die Trans-Thematik ablehnen, weil dadurch die Exklusivität ihrer Privilegien in Gefahr gerät.
        Alice Schwarzer hat das recht früh erkannt, bleibt aber vom feministisch-matriarchalen Komplex bislang weitgehend ungehört.

        Jetzt saugt der gigantische woke Wurmfortsatz des Feminismus den eigentlichen Wurm auf. Ein beeindruckendes Spektakel.

        • Ich finde es, ehrlich gesagt, erstaunlich dass ein Teil der Feministen sich NICHT daran stört, dass Männer einfach so behaupten können, Frauen zu sein, und dass es hierzu ausreicht, sich einen Rock anzuziehen (jedes mal wenn ich Georg „Mrs. Garrison“ Kellermann sehe, möchte ich ihm zurufen, er soll wenigstens eine vernünftige Perücke tragen).

          Ich kann mir das aktuell nur so erklären, dass diese feministische Fraktion an die Erlösung durch die Erbsünde Mann glaubt. Transfrauen errkennen sozusagen ihre Sünde, streifen ihre verderbte Existenz als Mann ab und gehen fortan als das bessere Geschlecht durch die Welt.

          • Stimmt. Missionarischer Eifer aus der Überzeugtheit von der eigenen moralischen Höherwertigkeit.

            Werde auch du zur Frau. Komm auf die bright side.

            Aber wenn der Pimmel dann in der Frauen-Umkleide sichtbar wird, ist das Gekreische groß.

  4. Die Toleranz gegenüber Intoleranten wie RadFems, Wokies, Transaktivisten selbst von Kritikern kommt oft in der Äusserung zum Ausdruck, diese hätten ja „eigentlich gute Absichten“, würden „über das Ziel hinausschießen“, die knallharte Machtpolitik ohne jedes moralische Ziel wird lieber verdrängt.
    Dürfte daran liegen, daß viele Kritiker, zBsp. Journalisten, nicht bereit sind, ihr eigenes Milieu mal grundsätzlich zu hinterfragen.

  5. I must be cruel only to be kind.
    Thus bad begins and worse remains behind.

    Hamlet, Shakespeare

    https://www.enotes.com/shakespeare-quotes/cruel-kind

    „He must be cruel to his mother, he explains, only to be kind to her—to save her from lapsing any further into sensuality and betrayal of her dead husband. The sentiment—harsh medicine may effect the best cure—is ancient, but Hamlet apparently coins „cruel to be kind,“ a very common phrase nowadays.“

  6. Toleranz heißt, andere zu erdulden, die man nicht versteht oder die irgendwie anders sind. Das kann auch pure Gleichgültigkeit sein, eigentlich ist das sogar ein Synonym zu Toleranz.

    Nun ist weder „Duldsamkeit“ noch „Gleichgültigkeit“ pauschal etwas Positives, hier die Buntheit zu fördern, damit man mehr erdulden muss oder seine Gleichgültigkeit unter Beweis stellen kann, ist irgendwie absurd. Aber gut, das ist ein anderes Thema.

    Zum vermeintlichen Paradoxon: ich sehe das als typisch philosophische Verirrung, die auf schwammigen Definitionen herumrutscht und darauf basierend fatale Empfehlungen ausspricht, die dann irgendwelche Dummköpfe in die Tat umsetzen.

    Es ist doch so, dass in einer Demokratie der Meinungsbildungsprozess offen sein muss, sonst ist es keine. Unterdrückt man vermeintlich „intolerante Philosophen“ dann hat man defakto die Axt an die demokratischen Grundfesten gelegt.

    Der Grund ist, und das übersieht Popper m.E., dass es eben keine Binarität Toleranz vs. Intoleranz gibt, sondern sich ein Spektrum aus mehr oder weniger begründeten Bedenken und subjektiven Gefährdungsempfinden aufspannt, welches normalerweise auch seine Berechtigung hat und welches kommuniziert und durchdacht werden muss, will man Fehlentwicklungen vermeiden.

    Umgedreht ist auch der Grad an Toleranz, den ein Mensch entwickelt unterschiedlich und auch erfahrungsabhängig, demzufolge wird die Einschätzung, wer als intolerant zu gelten hat, stark subjektiv sein. Das sehen wir ja heutzutage. Weil Politiker und „Medienschaffende“ nicht besonders klug sind (freundlich ausgedrückt), müssen die den dämlichen Denkfehler von Popper natürlich prompt ausprobieren, womit wir unmittelbar bei „cancel culture“ und „Kampf gegen rechts“ landen, in einer extrem unfreien und intoleranten Gesellschaft. Immerhin wissen wir jetzt, dass es in der Realität kein Paradoxon ist, sondern unmittelbar zu einem ähnlichen Resultat führt, wie wenn man die „Intoleranten“ hätte gewähren lassen, vermutlich geht es sogar sehr viel schneller und sicherer in den Totalitarismus…

    • Kommt halt darauf an, was man unter Toleranz versteht.

      Versteht man darunter das Aushalten Anderer, dann bedeutet Intoleranz z.B. mit Gewalt oder anderen unlauteren Mitteln gegen andere vorzugehen. Und so etwas darf man nicht tolerieren, sonst ist die Demokratie schnell vorbei und die Toleranz auch.

      Versteht man unter Toleranz aber Akzeptanz, dann bedeutet Intoleranz nicht nur das Genannte, sondern bezieht auch Leute mit ein, die Andere nur nicht akzeptieren, ohne gegen sie mit Gewalt oder so vorgehen zu wollen. Genau hier gilt dann, dass man letztere Gruppe im Gegensatz zur ersten tolerieren (im Sinne von nicht verbieten oder dergleichen) muss, sonst ist die Demokratie auch vorbei (und die Toleranz).

      • „Versteht man darunter das Aushalten Anderer, dann bedeutet Intoleranz z.B. mit Gewalt oder anderen unlauteren Mitteln gegen andere vorzugehen.“

        Popper sprach von Philosphen, sein Ansatz geht in die Politik. Wenn jemand „unlautere Mittel“ anwendet, ist er sowieso ein Straftäter.

        Vermutlich zielt das Ganze (mal wieder) auf die Nazis. In der Hinsicht muss man Popper dann vorwerfen, dass er den eigentlichen Grund für deren Aufstieg nicht richtig erkannt hat, nämlich Not und ein destruktives Parteiensystem (welches uns gerade schon wieder in die Scheiße reitet). Das Volk trifft mehrheitlich keine Schuld und Philosophen schwatzen immer nur, sind allenfalls ein bequemer Vorwand für etwas. Ich bin absolut überzeugt davon, dass die meisten Deutschen einer Judenvernichtung niemals zugestimmt hätten (zumindest nicht ohne einseitigste Propaganda).

        Ich weiß auch nicht, wie der seine „freie Gesellschaft“ definiert hat, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er den selbstmörderischen, kulturzerstörenden Wahnsinn, der heute unter dieser Flagge segelt, sich nicht ansatzweise vorstellen konnte.

    • Ich habe seit ueber einem Jahr einen halb fertigen Artikel ueber das angesprochene Paradoxon auf meiner Festplatte liegen und komme nicht recht weiter. Der Begriff Toleranz ist ja nicht so einfach und eindeutig zu fassen; eignet sich daher vorzueglich als Streitobjekt.

      Meine Toleranz gegenueber einem z.B. Gluten-Intoleranten beschraenkt sich auf den Respekt fuer sein persoenliches Wohl. Also ich werde ihm nicht glutenhaltige Nahrungsmittel unterschieben. Aber wenn er meint, dass wegen ihm (oder seiner Untergruppe) der Rest der Welt auf Gluten verzichten muss, dann werde ich schnell intolerant. Es gibt also immer die persoenliche und die politische oder Gruppenebene, in denen man sich ganz unterschiedlich verhalten kann. Popper hat mit seiner Aussage sicher nur die politische Ebene angesprochen. Aber auf dieser Ebene Universalansprueche anzumelden (alle muessen tolerant sein) ist ideologisch und unlogisch, weil der Mensch das einfach nicht kann. Eine starke Definition einer Gruppe/Kultur waere, das aufzuzahlen, was sie nicht toleriert. Man weiss dann noch nicht, was die toll und gut finden, aber was sie unterbinden wollen ist klar. Und eine freie Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie nur wenige Intoleranzen hat. Je mehr Metaphysik, Religion, Philsophie wir da hinein interpretieren, desto wirrer wird die Diskussion.

      • Ja, guter Kommentar.

        „Eine starke Definition einer Gruppe/Kultur waere, das aufzuzahlen, was sie nicht toleriert.“

        Das tut sie, jede Kultur. Nennt sich Strafgesetzgebung.

        Alles was darüber hinaus geht, sind Anmaßungen ideologischer Gruppen, die glauben, die Macht und das Recht zu haben, auch weitergehende Forderungen durchzusetzen.

        „Und eine freie Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie nur wenige Intoleranzen hat.“

        Ich würde es anders formulieren:
        Als frei wird eine Gesellschaft empfunden, wenn die Mitglieder wenig Toleranz üben müssen, einfach weil es gar nicht nötig ist. Je mehr Toleranz eine Gesellschaft einfordert, desto unerträglicher wird das Leben in ihr. Ich habe die Begriffe „Duldsamkeit“ und „Gleichgültigkeit“ nicht umsonst gewählt, sie entkleiden den Euphemismus „Toleranz“ sehr wirkungsvoll. Toleranz ist eine Tugend, die man am besten selten benötigt, keinesfalls sollte man (wie heutzutage) Situationen fördern, die zu ständigem „erdulden müssen“ oder „Gleichgültigkeit“ führen, das ist letztendlich tödlich für jede funktionierende Gesellschaft.

        Ich habe dazu noch eine Anektode, vor einigen Jahren, sollte mein Sohn in der Grundschule so ein Theaterstück (mit)aufführen, so was links-grünes. Ich weiß nicht mehr wie es hieß, aber es ging im Kern um genau das: Toleranz. Es ging darum, dass in einem Königreich vier verschiedene Gruppen friedlich zusammenleben sollten, damit das funktionierte, musste jede Gruppe auf einen Teil ihrer Rechte verzichten und die Macht an den König abgeben. Da das irgendwann kurz nach 2015 war, ist mir echt die Galle hochgekocht und ich habe mich mit der Rektorin angelegt, wie sie so einen ideologischen Gehirnwäschemüll verlangen kann. Hat sie natürlich nicht kapiert. Dass das Stück nicht nur die Abgabe von Selbstbestimmung positiv framte, sondern auch ein Zurechtstutzen von Rechten, kapierte sie nicht. Hauptsache es herrschte wieder Friede, Freude, Eierkuchen. Toleranz halt.

        • Das tut sie, jede Kultur. Nennt sich Strafgesetzgebung.
          Alles was darüber hinaus geht, sind Anmaßungen ideologischer Gruppen, die glauben, die Macht und das Recht zu haben, auch weitergehende Forderungen durchzusetzen.

          Das finde ich wesentlich zu kurz gedacht.

          Die Freiheit in der Zivilisation hängt ab von einem Gleichgewicht zwischen persönlicher Freiheit und der Vermeidung von negativen externen Effekten, die die Menschen um uns herum oder die Gesundheit und das Wohlergehen des kollektiven Systems, von dem wir alle abhängen, beeinträchtigen. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen einer Gesellschaft, die Freiheit gewährt, und der naiv-libertären Vorstellung von Freiheit, wo das individuelle Verhalten absolut uneingeschränkt sein soll. Letzteres kann innerhalb eines Systems, das die Freiheit im Allgemeinen maximiert, nicht existieren, da die uneingeschränkte Freiheit des einen zum unethischen Zwang des anderen wird.

          Wenn wir das Verhalten anderer einschränken müssen, um die Integrität der Gesellschaft zu bewahren und unangemessenen Schaden für sie und die Individuen, die sie bilden, zu vermeiden, sollten wir die minimale Einschränkung anstreben, die ihrem Zweck dient, und nicht mehr.

          In der Umgangssprache denken wir bei „Einschränkungen“ oft an etwas, das von außen auferlegt wird. Der Gefangene wird durch die Zelle eingeschränkt. Im Prinzip könnte sich eine Person überall aufhalten, aber wenn sie durch eine Gefängniszelle eingeschränkt wird, bilden ihre tatsächlichen Aufenthaltsorte eine viel kleinere Menge.

          Es gibt eine ganz andere und äußerst wichtige Form der Einschränkung, die nicht von außen auferlegt wird: die Selbstbeschränkung.
          Die lebendige Welt manifestiert sich in einem Tanz zwischen Ordnung und Unordnung, und Ordnung erfordert Einschränkungen. Um eine harmonische Welt zu schaffen, muss es die richtige Art von Ordnung sein. Ordnung an sich ist nicht gut, und sie kann sogar ziemlich schlecht sein. Die Ordnung der Sklaverei ist nicht gut. Die Ordnung des groß angelegten Konflikts ist nicht gut. Die Ordnung der aggressiven industriellen Landwirtschaft ist nicht gut. Die Ordnung der Gesellschaft als Maschine ist nicht gut.
          In all diesen pathologischen Ordnungen findet sich eine Gemeinsamkeit: von außen auferlegte Einschränkungen. Es handelt sich dabei nicht um Fälle von Selbstbeschränkung, sondern vielmehr um Fälle, in denen die organische Freiheit, die den Akteuren eines Systems innewohnt, mit Gewalt außer Kraft gesetzt wird.

          Ordnung kann auch auf andere Weise entstehen: durch das Zusammenkommen und die freiwillige gemeinschaftliche (Selbst)Einschränkung von Akteuren, die auf diese Art lebendige Gruppen bilden. Das ist keine Garantie dass etwas Gutes entsteht, aber es ist notwendig dafür.

          • Die Freiheit in der Zivilisation hängt ab von einem Gleichgewicht zwischen persönlicher Freiheit und der Vermeidung von negativen externen Effekten, die die Menschen um uns herum oder die Gesundheit und das Wohlergehen des kollektiven Systems, von dem wir alle abhängen, beeinträchtigen. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen einer Gesellschaft, die Freiheit gewährt, und der naiv-libertären Vorstellung von Freiheit, wo das individuelle Verhalten absolut uneingeschränkt sein soll.

            Da stimme ich dir sogar zu, nur weiß ich nicht, wieso du das bringst, ich habe nirgendwo eine „naiv-libertäre“-Vorstellung geäußert. Dass ich nur das Strafgesetz erwähnt habe, lag schlicht daran, dass ich luisman auf „eine Gesellschaft solle ihre Toleranzgrenze definieren“ geantwortet hatte und da trifft das eben am besten. Natürlich gibt es auch in die Zukunft gerichtete planerische Elemente in der Politik, bzw. sollte es sie geben.

          • Ich wollte dir nicht unterstellen dass du eine naiv-libertäre Sicht vertrittst, sondern habe es als allgemeinen Punkt erwähnt.

            Dass ich nur das Strafgesetz erwähnt habe, lag schlicht daran, dass ich luisman auf “eine Gesellschaft solle ihre Toleranzgrenze definieren” geantwortet hatte und da trifft das eben am besten.

            Das ist allerdings das wesentliche. Strafgesetze fallen ja nicht vom Himmel. Sie sind eine kodifizierte Übereinkunft, die ZUERST von einer Gruppe von Menschen („Land, Staat, „Kultur“) als freiwillige Beschränkungen – in dem Sinne wie ich es im Beitrag oben geschrieben habe – gelebt wurden. DANACH haben diese Beschränkungen mit der Zeit den Weg in ein Gesetz gefunden. Der Fokus auf das Strafgesetz („alles was nicht verboten ist, ist erlaubt“) ist meiner Ansicht nach deshalb verkürzt, weil er diese Abfolge nicht berücksichtigt. Bzw. umkehrt, wenn so getan wird als käme es lediglich auf die gesetzlichen, d.h. externen, Beschränkungen an.

            Zuerst kommen die Selbstbeschränkungen. Wenn sich eine Gruppe von Menschen zusammenfindet, die gemeinsame Wertvorstellungen und damit gemeinsame Selbstbeschränkungen leben, dann entstehen daraus Gesetze.

        • Einverstanden. Ich habe den Begriff mit Ertragen ‚uebersetzt‘, im schlimmsten Fall Erleiden. Und das ist doch kein erstrebenswertes Leben, wenn man andauern etwas ertragen oder erleiden muss. Auch wenn Jordan Peterson immer wieder erzaehlt „Life is suffering“. Ja,schon, aber man will ja zumindest das eigene Leiden verringern, nicht absichtlich erhoehen. Und dann haben wir ja noch das Boeckenfoerde-Diktum, dass der freiheitliche, religionsfreie Staat sich quasi selbst voraussetzt, ohne dass man ihn erzwingen kann. Hier trifft dann Gleichgueltigkeit besser, wenn man ohne Konflikte neben einander her leben kann.

          Andererseits sehe ich das Thema Strafgesetzgebung kritischer. Sofern es sich nur um materielle Schaeden handelt (Leib, Leben, Besitz), ist das Strafgesetz OK, aber nicht ausreichend, weil dort der materielle Ausgleich oft nicht entschieden wird (aber m.A. sollte). Bei immateriellen Schaeden spielt wieder sehr viel Metaphysik eine Rolle (Volksverhetzung, Gotteslaesterung etc.), was im angelsaechsischen Recht oft besser geregelt ist.

          • Ja, wer ist schon mit dem Gesetz zufrieden 🙂

            Aber die Aussage, dass es die Toleranzgrenzen einer Gesellschaft definiert, bleibt ja bestehen.

            Meines Erachtens gilt auch, dass die Gesetze sich geänderten Toleranzgrenzen früher oder später anpassen. Wenn z.B. strenggläubige Muslime hier die Überhand gewinnen würden, dann würde auch das GG all deren einschränkendes Verhalten irgendwann adeln. Man sieht ja wie das läuft: die bestehende Gesetzgebung wird einfach unterwandert, abgeändert, frühere Auslegungen mißachtet und die Massenmedien schweigen oder klatschen sogar dazu, usw., es ist halt ein Apparat aus fehlbaren und ängstlich-opportunistischen Menschen, die sich einer starken Lobby und dem richtigen Framing fast immer fügen.

    • Ich bin voll bei Androsch. Es ist nur ein vermeidliches Paradoxon, das von unscharfen Definitionen herrührt. Toleranz heist einzig und alleine „Aushalten“, und nur so macht es Sinn, Toleranz zu fordern (Jesus: “ Liebe deinen nächsten _wie_ dich selbst (nicht mehr)). Viele verwenden den Begriff aber synonym mit „bedingungsloser Unterwerfung“. Und erst da gibt es das Paradoxon, denn jemandem, der sich nicht unterwirft (also “ untolerant“ ist), soll ich mich jetzt nach eigener Unterwerfungsforderung ebenfalls zu Füßen legen.

      Und sind wir mal ehrlich, wer fordert Toleranz und wie soll die aussehen? LBGTQ* fordert damit, dass ich meine Kinder unterwerfe, damit sie indoktriniert werden. Die „stark pigmentierten“ fordern , dass wir in allen Dingen zurücktrete und ihnen den vortritt lasse, also auch Unterwerfung. Die Feministen fordern Unterwerfung, im Rennen um die besten Jobs und auch sonst soll Frauen überall der Vortritt gewährt werden.

      Und das ist eben nicht Toleranz.

  7. »Aber wir sollten für uns das Recht in Anspruch nehmen, sie, wenn nötig, mit Gewalt zu unterdrücken, denn es kann sich leicht herausstellen, dass ihre Vertreter nicht bereit sind, mit uns auf der Ebene rationaler Diskussion zusammenzutreffen, und beginnen, das Argumentieren als solches zu verwerfen; sie können ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente – die sie ein Täuschungsmanöver nennen – zu hören, und sie werden ihnen vielleicht den Rat geben, Argumente mit Fäusten und Pistolen zu beantworten.«

    Was passiert aber, wenn das »rationale Argument« im Inneren der »offenen Gesellschaft« selbst degeneriert? Das hat Popper nicht vorgesehen. Dann wird der Aufruf zur Intoleranz gegen die Intoleranten selbst zur totalitären Maßnahme, weil die angebliche Intoleranz der angeblichen »Feinde der offenen Gesellschaft« eine Projektion, ein Wahngebilde ist.

    Das betrifft nicht nur den Obskurantismus in den »weichen« akademischen Sparten wie den Kulturwissenschaften, in denen die woke Ideologie grassiert.

    Es betrifft auch den gesamten Bereich, in dem sich »harte« naturwissenschaftliche und »weiche«, bewusstseinsabhängige Faktoren nicht klar trennen lassen, wie in der Psychologie und in der Medizin.

    Hier haben wir nicht nur die Replikationskrise, sondern auch den Umstand, dass wissenschaftliche Befunde für eine breite Öffentlichkeit nicht ohne mediale Vermittlung auskommen. Was dazu geführt hat, dass heute jede auf dem Bildschirm präsentierte Zahlenreihe als »Wissenschaft« verkauft werden kann. Was wiederum dem politischen Missbrauch und dem medialen Gate-Keeping die Tore öffnet.

    Das ist die systemische Voraussetzung dafür, dass ein Karl Lauterbach als Gesundheitsminister durchgehen kann.

    • „Was passiert aber, wenn das »rationale Argument« im Inneren der »offenen Gesellschaft« selbst degeneriert? Das hat Popper nicht vorgesehen.“

      Irrationalismus sieht sich selbst gerne als einzig wahren Realsimus, als eine Art ultimativen Rationalismus …. Wenn die Mehrheit der Menschen so tickt, insbesondere die „Intelligenzia“, dann hat der wahre Rationalismus (iS Poppers), der von seiner Natur her eher ein defensives Unterfangen ist, keine Luft mehr zum Atmen.

    • Was passiert aber, wenn das »rationale Argument« im Inneren der »offenen Gesellschaft« selbst degeneriert?

      Dann ist es offensichtlich gerade kein rationales Argument mehr.

      Für das rationale Argument i.S.v. Popper reicht es ja nicht aus einfach zu sagen: „Ich habe hier ein rationales Argument“. Das kann jeder sagen, insbesondere auch die Anhänger irrationaler Ideologien. Siehe radikaler Genderfeminismus.

    • Das ist das akutere und tiefergehende Problem. Laute Teile der Gesellschaft, und insbesondere der Politik- und Medienlandschaft, haben sich vom rationalen Diskurs verabschiedet.

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    Sind wir tolerant gegenüber Muslimen oder haben wir Angst vor deren ständiger Bereitschaft zur Gewaltausübung?

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