Die Postmoderne und ihre Auswirkungen auf die Politik

Im Tagesspiegel findet sich ein Interview mit dem Professor Andreas Rödder, der etwas zur Politik und Postmoderne sagt:

Die These Gabriels lautet: Die Wähler rechtspopulistischer Parteien sind keine Anti-Modernisierer, sondern enttäuscht von der Postmoderne, die Zusammenhänge auflöst. Trifft er damit einen Punkt?

Gabriel trifft nicht den einzigen, aber er trifft einen wichtigen Punkt. Was die Postmoderne bewirkt hat, nannte der Historiker Zygmunt Baumaneinmal die „Zerschlagung der Gewissheit“. Nun stellt sich aber die Frage: Was gilt, wenn das Alte nicht mehr gilt? Gabriel hat genau auf diese grundlegenden Orientierungsprobleme aufmerksam gemacht.

Da fängt es schon an: Denn zunächst stellt sich eben die Frage, was man genau alles Zerschlagen kann. Bis zu welchem Grad ist etwas eine soziale Konstruktion und zu welchem Grad gibt es zb biologische Grundlagen, die eine Dekonstruktion nur eingeschränkt zulassen.

Was tritt an die Stelle des überwundenen Alten?

Das ist die entscheidende Frage. In den 80er Jahren haben viele die Auflösung der Gewissheit als Befreiung empfunden. Lyotard stellte die These auf, die Postmoderne habe nicht nur die Ganzheit zugunsten von Pluralisierung überwunden, sondern auch die Sehnsucht nach Ganzheit überwunden. Das war sein entscheidender Irrtum.

Warum?

Man könnte frei nach Sepp Herberger sagen: Nach der Dekonstruktion ist vor der Konstruktion. Aus der Auflösung der Ordnungsvorstellung der Moderne ist nämlich ein neuer Hunger nach Ganzheit entstanden. Diesen Hunger stillt eine neue Kultur, die ich als Kultur des Regenbogens bezeichne. Dabei geht es um Ziele wie Anti-Diskriminierung, Diversität, Inklusion und Gleichstellung.

Ich halte es für wesentlich interessanter, wenn man zunächst erst einmal von verschiedenen Prinzipien ausgeht:

  • Auf der einen Seite ergibt sich der Wunsch nach einer Ordnung, die ein soziales Zusammenleben ermöglicht und innerhalb der ein gewisser Grundkonsens gefunden wird, wie man miteinander umgeht, der auf einem „Wir-Gefühl“ beruht, eine Gemeinschaft
  • Auf der anderen Seite gibt es ein Bedürfnis danach, dass man so leben kann, wie man will, dass man nicht zu stark eingeengt wird und das man auch seine eigenen Interessen wahrt.

Diese Prinzipien entstehen fast zwangsläufig aus dem ewigen Problem, dass wir als kooperative Gruppentiere nur innerhalb einer Gemeinschaft die Vorteile dieser kooperativen Spiele ernten können, dass wir aber gleichzeitig natürlich auch gegen Trittbrettfahrer und Ausnutzung vorgehen wollen.

Um so wohlhabender eine Gesellschaft ist, um so mehr Freiraum kann sie dem Individuum geben, weil jeder auch auf sich selbst gestellt leben kann und den anderen nicht in eine Zusammenarbeit zwingen muss. Die Liberalität der heutigen Zeit liegt gerade darin begründet und aus meiner Sicht weniger in einer Dekonstruktion. Eher führen die Umstände dazu, dass sich die Vor- und Nachteile im Verhalten verschieben und damit andere Lösungen attraktiver werden.

Vielfalt und Toleranz bedeutet, dass jeder so leben kann, wie er will. Um so eher er das auf eigene Kosten macht, um so eher muss sich ein Hinderer eben auch vorhalten lassen, dass es ihn schlicht nichts angeht, wie der andere lebt.

Gabriel argumentiert, viele Menschen würden das Versprechen der Vielfalt nicht als Bereicherung empfinden. Sie hätten den Eindruck, ihre eigenen Bedürfnisse würden durch die Aufmerksamkeit der Politik für die neuen Themen missachtet. Ist das so?

Es gibt ein schlagendes Beispiel für die Richtigkeit dieser These – nämlich die Flüchtlingskrise und die Willkommenskultur nach dem Herbst 2015 in Deutschland. In der öffentlichen Debatte dominierte die Kultur des Regenbogens, der ungesteuerte Zuzug wurde als moralisch unabweisbar und gesellschaftlich bereichernd gefeiert. Gleichzeitig gaben die Wortführer dieser Kultur einen engen Rahmen des Sagbaren vor: Wer sich – egal mit welcher Begründung – gegenüber einem ungeregelten Zuzug skeptisch zeigte, wurde schnell als Fremdenfeind ausgegrenzt. Das hatte Züge einer repressiven Toleranz. In der Breite der Gesellschaft stieß die Willkommenskultur dagegen keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Vielmehr hat sie ganz erhebliche Gegenbewegungen provoziert, die mit dem Erstarken der AfD unser politisches System verändert haben. Denn Menschen, denen man bestimmte Denk- oder Sprachweisen vorgeben will, fordern ihre Freiheit oft umso vehementer ein.

Wendet man das obige Schema an, dann ist es verständlich, dass Leute mit dem Zuzug nicht einverstanden waren: Sie hatten das Gefühl, dass hier Leute in das Land gebracht werden, die nicht in das „Wir-Gefühl“ passten und bei denen sie für etwas zahlen sollten, was der Gemeinschaft nichts brachte.
Andere waren wiederum der Meinung, dass eben damit keine Einschränkung verbunden ist, schlicht weil Deutschland als Land reich genug sei, um Leuten zu helfen und es sich damit nicht auf andere auswirkt bzw. nur in einer Weise die hinzunehmen ist,  weil es sie nicht über Gebühr belastet.

Für die erste Gruppe ist der Slogan Merkels „wir schaffen das“ nichts anderes als blanker Hohn, weil es ihnen zunächst um die Frage geht, warum man das überhaupt schaffen sollte.
Wo die eine Seite Menschen in Not sieht, die aus einem Kriegsgebiet fliehen, und die man deswegen unterstützen muss oder eben Leute, die aus benachteiligten Ländern kommen, die auch aufgrund unseres Reichtums arm sind, und die man bereits deswegen unterstützen muss, sehen die anderen Wirtschaftsflüchtlinge, die sich noch dazu schlecht verhalten und damit klassische Trittbrettfahrer, die von außerhalb kommend das System ausnutzen

Sie sehen damit eine Überreizung des Solidaritätsprinzips und betonen die – aus ihrer Sicht bestehenden Auswirkungen auf ihr Freiheiten: Das Geld das Ausgegeben wird, die Kriminalität, die steigt und Angriffe auf schutzwürdige Personen aus dem eigenen Umfeld: Deswegen ist gerade die Auflistung sexueller Übergriffe auf Mädchen und Frauen ein so beliebtes Mittel, auch ungeachtet der Prozentzahlen von Handelnden Flüchtlingen, weil damit deutlich gemacht werden kann, dass man Leute aushält, die der Gemeinschaft nicht nur nicht nutzen, sondern sogar schaden und andere in ihren Freiheiten einschränken („Unsere Frauen trauen sich nicht mehr auf die Straße weil dort Flüchtlingshorden warten“).

„Wir schaffen das“ ist damit nicht etwa eine vorgegebene Wahrheit, sondern eine Aussage, die irrelevant in deren Augen ist: Es mag sein, dass wir es schaffen können, aber das wäre so wie zu sagen, dass man es schafft, die Million für einen Erpresser aufzubringen, statt ihn einzusperren.

Diese beiden Konstruktionen, der arme Kriegsflüchtling, der gleichzeitig neue Impulse gibt und später die Rente zahlt, der aber jedenfalls Hilfe braucht und der Ausnutzer, dem man wegen seines schlechten Benehmens aus dem Haus schmeißen muss, ringen dann eben miteinander – jedenfalls als die Tendenzen, daneben gibt es natürlich viele vermittelnde Positionen.

Dass die Politik glaubte, dass sie tatsächlich nur die eine Position lang genug vermitteln braucht, um die andere klein zu bekommen, ist in der Tat enorm. Es hängt vielleicht auch damit zusammen, dass viele glauben, dass man Wirklichkeit schlicht konstruieren kann, obwohl der Konflikt vorhanden ist und angesprochen werden muss.

Eine Folge der Postmoderne ist die Genderdebatte. „Gender Mainstreaming“ ist Ziel internationaler Abkommen. Sie sind einer der wenigen renommierten Gesellschaftswissenschaftler, der diese Entwicklung kritisch sieht. Was stört Sie daran?

Grundsätzlich hat die Postmoderne völlig Recht: Die Nation ist genau so wenig eine naturgegebene Kategorie wie die bürgerliche Geschlechterordnung des 19. oder 20. Jahrhunderts. Beides sind kulturelle Konstrukte, beides sind auch Ordnungen von Macht. Jetzt aber kommt mein Einwand. Die Postmoderne sagt, dass alle Ordnungen diskursiv erzeugte Machtkonstrukte sind. Wenn das so ist, dann geht es auch bei den Forderungen nach Anti-Diskriminierung, Diversität und Gleichstellung um Macht.

Und das ist in der Tat eine Einsicht, die so einfach wie logisch ist, dennoch aber in dem Bereich fast beständig ausgeblendet wird: Die Vertreter dieser Theorien glauben sie könnten das Problem dadurch ausblenden, dass sie ja die Machtlosen vertreten und deswegen keine Macht haben können. Dass ist aber eine Illusion, denn über die Politik erhalten sie ja gerade die Macht und greifen in das Leben der Anderen ein. Regeln zum Schutz einer kleinen Minderheit aufzustellen und dabei das Verhalten der Mehrheit zu etwas Falschem zu erklären, erfordert Macht und gesellschaftlichen Druck.

Wo begegnet Ihnen Macht in der Gender-Debatte?

Denken Sie an die geschlechtergerechte Schreibweise mit großem Binnen-I für ProfessorInnen und ManagerInnen. Haben Sie jemals die geschlechtergerechte Schreibweise für MörderInnen und MenschenhändlerInnen gelesen? Über die Gender-Studies sind neue diskursive Ordnungen von aggressiver Männlichkeit und guter Weiblichkeit aufgekommen. Zugleich ist eine neue Hierarchie von ausgleichsbedürftigen Benachteiligungen entstanden. Der ehemalige Telekom-Vorstand Thomas Sattelberger, seinerzeit selbst ein Förderer von Gender Mainstreaming, hat es so formuliert: An der Spitze stehen Frauen, am Ende stehen Behinderte.

Es ist ja immerhin etwas, dass das mal so deutlich ausgesprochen wird: Es werden schlicht neue Hierarchien errichtet, diesmal sogar noch autoritärer als vorher und außerordentlich starr.

Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Die Frauenquote für Aufsichtsräte von börsennotierten Unternehmen führt dazu, dass eine kinderlose Unternehmertochter aus München-Bogenhausen den Vorzug vor einem dreifachen Familienvater mit Migrationshintergrund und Behinderung aus Berlin-Neukölln erhält. Der Soziologe Talcott Parsons hat schon in den 50er Jahren die Einsicht formuliert, dass jede Inklusion neue Exklusionen nach sich zieht. Leider verweigern sich viele AktivistInnen von Gender Mainstreaming oder der „Queer Theory“ dieser Einsicht, sondern erheben einen unreflektierten, verbindlichen Geltungsanspruch für ihren eigenen Ordnungsentwurf. Mit dieser moralischen Aufladung und Ideologisierung entzieht sich die Kultur des Regenbogens der Debatte – und löst die Gegenbewegung aus, auf die Gabriel hinweist.

Meine Vermutung ist, dass die Aktivistinnen dazu eher in typischer Weise die Augen verdrehen würden und anführen würden, dass sie selbstverständlich einen intersektionalen Feminismus vertreten, in dem Migrationshintergrund und Behinderungen erst recht eine Rolle spielen. Wenn es nach ihnen gehen würde, dann würden alle Vorstandspositonen mit schwarzen behinderten, lesbischen Transsexuellen besetzt und nicht mit Männern. Wenn aber Männer, dann jedenfalls schwule Männer, die nicht weiß sind.

Aber das wird auch keine Verbesserung sein, gerade weil es solche eben noch weniger in ausreichender Zahl für Vorstandspositonen gibt und zumindest das wohl auch den Aktivistinnen bekannt ist, so dass es nur in dem rein theoretischen Bereich gefordert wird.

Begrüßen Sie, dass Menschen heute ihre sexuelle Orientierung frei leben dürfen und sich der Staat nicht mehr am dualen Geschlechtermodell von Mann und Frau orientiert, wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hat?

Absolut. Ich würde immer sagen, dass die Kultur des Regenbogens ganz erhebliche Emanzipationsgewinne mit sich gebracht hat. Wer die Ideologisierung und moralische Aufladung der Debatte kritisiert, sollte diese Fortschritte nicht geringschätzen.

Gegen was die meisten Leute etwas haben, sehr völkisch denkende ausgenommen, ist ja nicht, dass Schwule und Lesben heiraten dürfen oder das sie entsprechend als Schwule und Lesben leben. Sie haben etwas dagegen, dass damit einher eine Abwertung der nichtqueeren Lebensverhältnisse einhergehen soll und das Abwertungen nach Rasse, Geschlecht und sexueller Orientierung nun eben in eine andere Richtung erfolgen. Sie wollen also mehr Liberalität, bei der auch die „klassischen“ Lebensformen gleich akzeptiert sind und man sie nicht abwerten darf. Die Identitätspolitik geht aber in eine andere Richtung: weiß, heterosexuell, Mann, das ist das Böse und sollte eingeschränkt werden, ist toxisch und schuld an allem.

Gabriel scheint ja eine Rückkehr zu den Versprechungen der Moderne vorzuschweben. Ist das überhaupt möglich?

Als Historiker kann ich nur sagen, es kommt nichts zurück. Die zentrale These der Postmoderne, dass nämlich die großen Ordnungsentwürfe der klassischen Moderne ihre Verbindlichkeit verloren haben, halte ich für eine nicht mehr umkehrbare Einsicht. Das hat zwei Konsequenzen. Erstens: Auf diese Einsicht folgen nicht herrschaftsfreie Diskurse, sondern neue vermachtete Ordnungskonflikte. Und zweitens: Ordnungsvorstellungen müssen immer wieder neu begründet werden.

Und genau darum drücken sich viele Postmoderne gegenwärtig: Sie begründen ihre Vorstellungen nicht, sie setzen sie als Dogma. Sie werben nicht darum, sondern wollen von oben herab durchsetzen.

Und damit spaltet man die Gesellschaft.