»Wir müssen den Männern etwas anbieten dafür, dass wir das patriarchale System abschaffen«

Ein Artikel im Spiegel:

SPIEGEL: Frau Zykunov, Ihr Buch zum Thema Gleichberechtigung heißt »Was wollt ihr denn noch alles?!« Haben Sie eine Antwort auf die Frage?
Zykunov: Zusammengefasst: Parität in allen Bereichen. Im Buch findet sich ja quasi nur die Spitze des Eisbergs. Je mehr ich recherchiert habe, umso mehr Ungleichheiten habe ich entdeckt. Allein die Tatsache, dass die meisten Entscheider männlich, weiß, cis und hetero sind. Aber wir müssen nicht nur in die Politik und die Wirtschaft gucken. Auch in Kinderserien, Schulbüchern, der Erziehung, bei Wikipedia, in der Medizin, in den Algorithmen, in der Stadtplanung: Wohin wir auch schauen, überall steckt das verklebte Dreckspatriarchat drin. Es muss sich sehr viel ändern.
Da scheint mir wieder die alte Gleichsetzung von Ungleichheit und Diskriminierung vorzuliegen. Mal sehen ob sie es sich so einfach macht.
SPIEGEL: An welchen Stellschrauben müsste zuerst gedreht werden?
Zykunov: Einer der wichtigsten Hebel ist der Gender Care Gap. Aus ihm resultieren auch die anderen Gaps: der Gender Pay Gap, der Gender Pension Gap, der Gender Leisure Gap, also dass Frauen weniger Freizeit als Männer haben. Durch den Care Gap haben Frauen weniger Zeit, weniger Energie, weniger Ressourcen. Sie müssen schließlich putzen, sich um die Kinder kümmern, all die Care-Arbeit übernehmen. Das kostet Zeit, die Frauen nicht in andere Dinge stecken können, ihre Berufe, finanzielle Bildung, politisches Engagement oder einfach in ihre Hobbys. Es müsste zum Beispiel normaler werden, dass Männer Dinge zu hören bekommen wie »Deine Frau hat vor zwei Wochen ein Kind auf die Welt gebracht, und du bist schon wieder im Büro? Solltest du nicht bei ihr sein?« Oder die Frage, wieso er denn nicht zum Laternenbasteln in die Kita geht. All die Fragen, die man sonst Frauen stellt.
Wenn da nicht dieses blöde Rechnungen zahlen wäre. Das macht es mitunter nicht so einfach auszusetzen. Aber gibt es eigentlich Statistiken darüber wie viele Männer in der Zeit nach einer Geburt Urlaub nehmen? Das ist ja erst einmal der einzige Weg wie man dann zuhause sein kann. Ich vermute aber auch, dass die meisten Männer in der Zeit nicht unbedingt Überstunden machen werden.
Aber der Gender Care Gap war ja auch hier schon häufiger Thema:
SPIEGEL: Sie schreiben, dass Frauen, die mehr verdienen als ihre Männer, noch mehr Care-Arbeit übernehmen. Man sollte meinen, dann passiert das Gegenteil.
Zykunov: Ich weiß, diese Zusammenhänge klingen total absurd und veraltet, aber sie werden durch aktuelle Zahlen belegt. Wenn Frauen mehr verdienen als ihre Partner, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie betrogen und ihre Ehen geschieden werden.
SPIEGEL: Woran kann das liegen?
Zykunov: Es wird ja immer gefordert, dass Frauen Karriere machen und auch besser bezahlte Jobs annehmen sollen. Aber wenn sie dann Karriere machen, sind sie eine geldgeile Karrierefrau und natürlich eine Rabenmutter. Die Gesellschaft will nicht, dass Frauen Karriere machen – schon gar nicht Mütter und ganz besonders nicht Alleinerziehende. Wenn eine Mutter beruflich erfolgreich ist, strengt sie sich noch mehr an, allen zu beweisen, dass sie die Kinder nicht vernachlässigt und sie trotzdem den tollsten Kuchen fürs Kitabuffet beisteuert und die kreativsten Nachmittagsbasteleien mit den Kindern macht.
Es ist immer wieder interessant für mich, dass Frauen in diesen Ansichten immer nur die Fremdbestimmten sind. Die Gesellschaft will, und sie machen. Eine eigene Agenda in der Hinsicht, dass sie bestimmte CareArbeit einfach selbst erledigen will und nicht so gut loslassen kann wie die Männer kommt da nicht vor.
SPIEGEL: Aber der Tag hat nun mal nur 24 Stunden.
Zykunov: Das ist das Problem: Deshalb wartet am Ende der Karriereleiter, und nicht nur dort, für viele Frauen nur der Burn-out. Das mit den Frauen und der Karriere will unsere Gesellschaft nur auf dem Papier. Aber tief in uns wollen wir weiterhin diese antiquierten Rollenmodelle, besonders in Deutschland.
Auch hier wieder: Das Frauen Teil der Gesellschaft sind geht dabei irgendwie unter. Die Frauen wollen zu einem großen Teil die „Antiquierten Rollenmodelle“. Sie steuern ganz wesentlich wer welche Arbeit macht und machen darf.
SPIEGEL: Gender Pay Gap und Gender Care Gap sind glücklicherweise einigermaßen bekannt. Weniger bekannt sind die Zahlen zum Gender Health Gap.
Zykunov: Mir fehlten die Worte, als ich dazu recherchierte. Frauen haben ein um 32 Prozent höheres Risiko, auf dem OP-Tisch zu sterben, wenn sie von einem männlichen Chirurgen operiert werden. Aber rund 77 Prozent aller Chirurgen sind männlich. Das ist ja lebensgefährlich! Ich habe ehrlich gesagt keinen Bock auf eine Chefarztbehandlung, ich will eine Zusatzversicherung für eine Chefärztinnen-Behandlung.
Das dürfte nach diesem Artikel diese Studie sein:

Association of Surgeon-Patient Sex Concordance With Postoperative Outcomes

Question  What is the association of surgeon and patient sex concordance with postoperative outcomes?

Findings  In this population-based cohort study of 1 320 108 patients treated by 2937 surgeons, sex discordance between surgeon and patient was associated with a small but statistically significant increased likelihood of adverse postoperative outcomes. This was driven by worse outcomes for female patients treated by male physicians without a corresponding association among male patients treated by female physicians.

Meaning  This study found that sex discordance between surgeons and patients (particularly male surgeons and female patients) may contribute to worse surgical outcomes.

Abstract

Importance  Surgeon sex is associated with differential postoperative outcomes, though the mechanism remains unclear. Sex concordance of surgeons and patients may represent a potential mechanism, given prior associations with physician-patient relationships.

Objective  To examine the association between surgeon-patient sex discordance and postoperative outcomes.

Design, Setting, and Participants  In this population-based, retrospective cohort study, adult patients 18 years and older undergoing one of 21 common elective or emergent surgical procedures in Ontario, Canada, from 2007 to 2019 were analyzed. Data were analyzed from November 2020 to March 2021.

Exposures  Surgeon-patient sex concordance (male surgeon with male patient, female surgeon with female patient) or discordance (male surgeon with female patient, female surgeon with male patient), operationalized as a binary (discordant vs concordant) and 4-level categorical variable.

Main Outcomes and Measures  Adverse postoperative outcome, defined as death, readmission, or complication within 30-day following surgery. Secondary outcomes assessed each of these metrics individually. Generalized estimating equations with clustering at the level of the surgical procedure were used to account for differences between procedures, and subgroup analyses were performed according to procedure, patient, surgeon, and hospital characteristics.

Results  Among 1 320 108 patients treated by 2937 surgeons, 602 560 patients were sex concordant with their surgeon (male surgeon with male patient, 509 634; female surgeon with female patient, 92 926) while 717 548 were sex discordant (male surgeon with female patient, 667 279; female surgeon with male patient, 50 269). A total of 189 390 patients (14.9%) experienced 1 or more adverse postoperative outcomes. Sex discordance between surgeon and patient was associated with a significant increased likelihood of composite adverse postoperative outcomes (adjusted odds ratio [aOR], 1.07; 95% CI, 1.04-1.09), as well as death (aOR, 1.07; 95% CI, 1.02-1.13), and complications (aOR, 1.09; 95% CI, 1.07-1.11) but not readmission (aOR, 1.02; 95% CI, 0.98-1.07). While associations were consistent across most subgroups, patient sex significantly modified this association, with worse outcomes for female patients treated by male surgeons (compared with female patients treated by female surgeons: aOR, 1.15; 95% CI, 1.10-1.20) but not male patients treated by female surgeons (compared with male patients treated by male surgeons: aOR, 0.99; 95% CI, 0.95-1.03) (P for interaction = .004).

Conclusions and Relevance  In this study, sex discordance between surgeons and patients negatively affected outcomes following common procedures. Subgroup analyses demonstrate that this is driven by worse outcomes among female patients treated by male surgeons. Further work should seek to understand the underlying mechanism.

Die Begründung, die ich auch direkt vermutet habe, wird auch in der Studie angesprochen:

female surgeons in both relevant dyads were younger and had lower annual surgical volumes than male surgeons. Similarly, female surgeons treated younger patients with less comorbidity than male surgeons. (…)
Second, while we specifically accounted for the procedure performed (as defined by billing codes) in our GEE, as granular metrics of case complexity were not available, it is possible that, within each procedure examined, male surgeons may perform more complex or high-risk cases. This would contribute to unmeasured confounding. However, a stratified analysis by case complexity did not show heterogeneity of effect, and there is not an underlying rationale to support that male surgeons are more likely to perform a more complex subset of each procedure.

Aus meiner Sicht macht es Sinn, dass die erfahrensten Ärzte die sehr schwierigen Operationen mit hohem Risiko durchführen. Das sind anscheinend eher die Männer. Es wäre auch interessant, ob diese vielleicht ungünstigere Schichten haben, etwa Notarzt am Wochenende mit betrunkenen Autounfällen etc gegenüber geplanter Operation.

SPIEGEL: Eine weitere Zahl, die mich überraschte: 90 Prozent aller Wikipedianer sind männlich.
Zykunov: Das ist völlig verrückt, oder? Selbst dort, wo man keine Karriereleiter erklimmen muss, um etwas zu schreiben, selbst in dieser digitalen Grassroots-Bewegung sind die Männer so krass dominant.
Eigentlich sollte ihr das etwas zeigen, gerade in Bezug auf die Wikipedia. Denn da kann ja nun wirklich jeder mitmachen. Vielleicht bringen sich einfach Männer lieber auf diese Weise ein, vielleicht aufgrund des Dinge-Personen Unterschiedes, aber auch, weil sie gerne Sachdiskussionen führen etc.
Es ist überall dasselbe, egal, wohin man guckt. 72 Prozent der Lehrstuhlinhaber an den Unis sind männlich. 87 Prozent der Chefredakteure von Lokalzeitungen sind männlich. 90 Prozent aller Bürgermeister in Deutschland sind männlich! Schauen wir in die Schulen: Wer macht die Lehrpläne, wer sitzt in den Kultusministerien? Männer in der Überzahl. Da verwundert es nicht, dass sich nichts ändert. Ich wünschte, dass alle in der Bevölkerung das Patriarchatsgame einmal durchspielen und verstehen, wie diese Prozesse ineinandergreifen.
Vielleicht sollte sie das selbst verstehen. Es ist eigentlich gar nicht so kompliziert, aber die Antwort ist vermutlich eine, die ihr schlicht nicht gefallen würde.
SPIEGEL: Aber wo soll man eingreifen, damit die Rädchen sich nicht immer weiterdrehen?
Zykunov: Wir brauchen Quoten in allen Bereichen: Politik, Uni, Stadtplanung, Medien, Wirtschaft, Forschung – überall. Nur so kann sich etwas ändern.
Da ist es wieder: Nicht: „Wir Frauen müssen besser werden und andere Prioritäten stzen“. Nein, Quoten sollen es regeln. Und zwar überall.
SPIEGEL: Und was sagen wir all den Günthers und Stefans in den Vorstandsetagen, die sagen, dass es ja wohl nach Qualität und nicht nach Geschlecht gehen muss?
Zykunov: Ja, Günther, es sollte nach Qualität gehen und nicht nach Geschlecht. Aber aktuell geht es doch nach Geschlecht! Es gibt längst eine Quote: eine Männerquote. Wir brauchen im Übrigen nicht nur eine Frauenquote, sondern auch eine Diversitäts- oder Gerechtigkeitsquote, um alle marginalisierten Gruppen unserer Gesellschaft abzubilden, alle Bedürfnisse und Lebenswelten. Und nein, wir werden damit nicht Frauen bevorzugen, sondern nur der längst existierenden Bevorzugung der Männer endlich etwas entgegensetzen.
„Es gibt längst eine Männerquote“ ist wirklich Blödsinn.  Ich glaube aber tatsächlich, dass ich da noch keinen besonderen Artikel zu habe. Erstaunlich eigentlich.
Wer in den Kommentaren eine gute Widerlegung schreiben will, es würde mich freuen.
SPIEGEL: Haben Sie bei der Recherche nicht manchmal vor Wut in die Tischkante gebissen?
Zykunov: Na klar. Und ich sage allen Frauen: Bitte werdet wütend! Wir brauchen Wut und Empörung! Erst dadurch wird das Thema gesehen. Wut ist eine Charaktereigenschaft, die Frauen über Jahrhunderte abtrainiert wurde. Was übrigens auch eine Ungerechtigkeit ist: Männer dürfen wütend werden, dafür werden sie respektiert und ernst genommen, das ist durchsetzungsstark. Wenn Frauen wütend werden, sind sie zickig, unausstehlich, haben Haare auf den Zähnen.
Frauen haben eine höhere „Agreeableness“. Man darf vermuten, dass ein nicht geringer Teil davon schlicht ein biologischer Geschlechterunterschied ist.
Aber „es ist ihnen abtrainiert worden“ klingt natürlich besser.
SPIEGEL: Was können wir tun, um die Wut in etwas Produktives zu verwandeln?
Zykunov: Wut kann dazu antreiben, erst im Privaten mit dem Partner zu streiten, dann im Job, in der Kommunalpolitik, auf allen Ebenen.
SPIEGEL: Heißt das, dass Frauen mehr so werden sollen wie Männer? Mal ordentlich auf den Tisch hauen?
Zykunov: So war das nicht gemeint. Das hieße ja, dass die Frauen verantwortlich sind. Sie sind selbst schuld am Gender Pay Gap, wenn sie nicht richtig ums Gehalt verhandeln. Dabei zeigen Studien, dass Frauen, die aggressiv verhandeln, trotzdem abgestraft werden, weil sie sich nicht verhalten wie eine Frau. Die Probleme lassen sich nicht auf individueller Ebene lösen, sondern nur auf struktureller. Das System ist kaputt – nicht wir Frauen!
Ach was für ein wundervoller Satz: „Das hieße ja, dass die Frauen verantwortlich sind“. Und das darf niemals, niemals sein. Siehe dazu auch:
Frauen wird zwar etwas abtrainiert, aber sie sollen auch anscheinend dieses abtrainieren nicht aufgeben.
SPIEGEL: Das klingt alles sehr fatalistisch. Gibt es denn gar keinen Lichtblick?
Zykunov: Ich glaube an die nächsten Generationen. Es macht mir Hoffnung, dass Kinder ihre Lehrkräfte korrigieren, wenn sie stereotypische Sätze sagen wie: »Ich brauche mal sechs starke Jungs zum Tragen.« Aber klar ist auch: Es wird nicht ohne ein Aufbäumen gegen das Patriarchat gehen. Denn mehr Gleichberechtigung bedeutet für viele Menschen, dass sie Macht und Geld abgeben müssen. Das machen diese Menschen nicht freiwillig.
Wenn sie sich da mal nicht zu sicher ist. Beim einmaligen Tragen nicht zu schwerer Sachen mag das durchaus der Fall sein. Aber im Bereich beständigen Körperkrafteinsatzes werden die meisten Frauen das gerne an die Männer abgeben.
SPIEGEL: Es reicht wahrscheinlich nicht, wenn wir Frauen uns mit unseren Töchtern auf den Weg machen, all die patriarchalischen Strukturen abzubauen, oder?
Zykunov: Es geht nicht ohne die Männer. Wir müssen sie überzeugen. Deshalb ist es so wichtig, all die Fakten öffentlich zu machen. Männer müssen verstehen, dass Gleichstellung keine Frauenaufgabe ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche. Und das ist das Schwierige. Wir müssen den Männern etwas anbieten dafür, dass wir das patriarchale System abschaffen. Es reicht nicht, wenn sie dann Disney-Serien mit ihrem Sohn gucken und dabei weinen dürfen oder auf Teilzeit reduzieren dürfen, ohne schief angeguckt zu werden.
Die „Fakten“. Vielleicht müssten sie sich dann mal auf eine echte Diskussion über die Fakten einlassen. Ein Großteil sind nämlich leider gar keine Fakten.
Und auch der Satz „Es geht nicht ohne die Männer. “ ist eigentlich noch einmal einen eigenen Artikel wert. Warum sollte es nicht ohne die Männer gehen? Geht einfach in die direkte Konkurrenz, stürzt euch genauso in den Job, sucht euch Männer, die die Kinder betreuen und behandelt sie so, dass sie das auch machen wollen.
Oder wählt eben Frauen in die Parlamente und erzwingt einen Wandel.
SPIEGEL: Was brauchen die Männer dann?
Zykunov: Finanzielle Anreize. Die Vorteile, die Männer durchs Patriarchat haben, sind größer als die Nachteile. Deshalb brauchen sie finanzielle Anreize, um sich mehr an Care-Arbeit zu beteiligen. Also beispielsweise 100 Prozent Gehaltsweiterzahlung beim Elterngeld, damit Frauen nicht mehr automatisch in Altersarmut rutschen, wenn sie sich um die Familie kümmern und Männer nicht mehr sagen können: »Ich kann nicht reduzieren, da verliere ich ja Geld.« Auch wenn es zugespitzt klingt: Freiwillig und ohne Anreize werden die männlichen Entscheider das Feld nicht räumen.
Faszinierend. Was will sie denn einem „Männlichen Entscheider“, sagen wir mal einem CEO eines Weltunternehmens an finanziellen Anreizen bieten, wenn er eine Frau nach oben lässt? Wollen sie ernsthaft den Konzern überbieten?
Und Geld ist natürlich nicht alles. Viele dort machen es nicht wegen des Geldes, sondern weil sie Workaholics sind, die die Anspannung und die Herausforderung brauchen.