Geschlechtsdysphorie (Gender Dysphoria) und Autismus

Ich habe gerade eine interessante Podcastepisode gehört, die sich mit Geschlechtsdysphorie und Autismus beschäftigt.
Der Artikel hier fasst vieles, was dort gesagt worden ist ganz gut zusammen:

A few small studies have been done to attempt to quantify the association between autism and gender dysphoria.

  • In 2010, de Vries and colleagues reported that 7.8% of children and adolescents diagnosed with gender dysphoria were also diagnosed with ASD.
  • In 2014, Pasterski and colleagues found that 5.5% of adults with gender dysphoria also had traits suggestive of ASD.

In der allgemeinen Bevölkerung liegt der Anteil eher bei 1%

Wesentlich mehr Personen mit Geschlechterdysphorie haben demnach ASD (autism spectrum disorder).

Warum das so ist, dass zu gibt es mehrere Theorien:

Several hypotheses have been proposed to causally link autism to gender dysphoria, but there is no consensus regarding a clear link or a reason for a link.5

Let’s look at some of these hypotheses:

  1. According to the extreme male brain theory, women are wired to think in more empathetic terms; whereas, men are more systematic in their thinking. According to this hypothesis, high levels of testosterone (a male hormone) in the womb result in an extreme male brain or male pattern of thought, which leads to both autism and gender dysphoria. This hypothesis only potentially applies to females who develop ASD and gender dysphoria.

Zu der Wirkung pränataler Hormone ist glaube ich im Blog schon hinreichend viel geschrieben worden. Die Extreme male brain Theory geht auf Baron-Cohen zurück.

2. Difficulty with social interactions has also been used to explain the development of gender dysphoria in autistic children. For instance, an autistic boy who is bullied by other boys might come to dislike other boys and identify with girls.

Quasi: Wenn die mich ärgern, dann will ich lieber zur anderen Gruppe gehören.

3. Autistic people have difficulty communicating with others. This trait may contribute to others missing social cues about assigned gender which might increase the chance of developing gender dysphoria. In other words, because other people don’t pick up on cues of a child’s assigned gender, then the child isn’t treated in a fashion concordant with this assigned sex and may, therefore, be more likely to go on to develop gender dysphoria.

Also die Idee, dass ein zB autistisches Mädchen eben eher wie ein Junge wirkt und daher sich vielleicht auch eher für einen Jungen hält/meint, dass es besser zu ihm passt?

4. Gender dysphoria could be a manifestation of autism, and autistic-like traits could drive gender dysphoria. For instance, a child with a male-assigned gender and autism may become preoccupied with female clothes, toys, and activities. In fact, this apparent gender dysphoria may not be gender dysphoria at all but rather obsessive-compulsive disorder (OCD).

Dazu von einer anderen Seite:

While compulsive checking, cleanliness, and perfectionism are commonly associated with obsessive compulsive disorder (OCD), there are many other presentations of OCD which are lesser known, but considered by professionals to be typical for OCD.

All types of OCD involve intrusive or unwanted thoughts that are obsessive in nature, or compulsive behaviors or mental acts that are performed to reduce anxiety or distress caused by those thoughts. People with OCD experience an increase in anxiety and distress generally due to the obsession, then a decrease when they act on the compulsion.

Sexual orientation OCD (SO-OCD) involves significant doubt regarding an individual’s sexual orientation. A person may experience intrusive and distressing thoughts questioning whether they are gay or straight, or for those who identify as heterosexual, may fear being or becoming gay/lesbian/queer.

Gender identity OCD is lesser known, but very similar in that it involves significant doubt and uncertainty as to whether the individual is cisgender (gender assigned at birth) or transgender. A person with gender identity OCD experiences obsessive thoughts that they may be, or will become, transgender. With both SO-OCD and gender identity OCD, often the underlying fear driving the OCD is the uncertainty of not being sure of one’s identity. Those who experience these types of OCD presentations may question themselves – “if I don’t know this core aspect about myself, then I can’t be sure about anything else.” Uncertainty and the destabilization of one’s identity causes a lot of distress for people with these types of OCD.

Individuals who experience SO-OCD or gender identity OCD are not homophobic or transphobic, although the distress that these individuals experience from their thoughts may lead others to believe otherwise. OCD often latches onto ideas or fears that may be associated with social stigma and the potential adverse reactions of being part of discriminated and marginalized groups.

5. Autistic children can demonstrate rigidity with respect to gender differences. They may have a hard time reconciling the difference between their assigned and experienced or desired gender. This increase in distress could possibly exacerbate gender dysphoria and make it harder for them to manage these feelings.

Also quasi eine Form von Hochschaukeln: Warum kann ich nicht so sein wie die? Ich bin jetzt noch mehr wie die?

6. Confusion in the development of gender identity or an altered pattern of gender identity development might contribute to gender dysphoria in children who have ASD.

Verwirrung bei der Entwicklung der Geschlechtsidentität oder ein verändertes Muster der Entwicklung der Geschlechtsidentität könnte zur Geschlechtsdysphorie bei Kindern mit ASD beitragen.
Also etwa, dass sie noch nicht so weit sind wie andere Jungs und andere Interessen haben und das dann direkt in ein anders sein, also Mädchen sein ummünzen?

7. Limitations with imagination and empathy, common in autistic people, may make it hard for autistic people to recognize that they belong to a certain gender group.

Also so in etwa der Gedanke, dass sie nicht recht verstehen, welches Geschlecht sie nun eigentlich sind, weil ihre Vorstellungskraft und ihr Einfühlungsvermögen nicht hinreichend ausgeprägt sind

Autismus (von altgriechisch αὐτός autós „selbst“) ist eine Störung der neuronalen Entwicklung. Er wird in der Regel in der frühen Kindheit sichtbar und zeigt sich typischerweise in folgenden drei Bereichen:

  • Probleme beim wechselseitigen sozialen Umgang und Austausch (etwa beim Verständnis und Aufbau von Beziehungen).
  • Auffälligkeiten bei der sprachlichen und nonverbalen Kommunikation (etwa bei Blickkontakt und Körpersprache).
  • eingeschränkte Interessen mit sich wiederholenden, stereotyp ablaufenden Verhaltensweisen.

Ich kann mir vorstellen, dass solche Probleme die Geschlechtszuordnung für diejenigen durcheinander werfen können.

 

10 Gedanken zu “Geschlechtsdysphorie (Gender Dysphoria) und Autismus

  1. @Chistian:
    „Also die Idee, dass ein zB autistisches Mädchen eben eher wie ein Junge wirkt und daher sich vielleicht auch eher für ein Mädchen hält/meint, dass es besser zu ihm passt?“

    Müßte es nicht heißen:
    „…und daher sich vielleicht auch eher für einen Jungen hält…(?!)

    Mehr oder weniger ausgeprägten Autismus habe ich übrigens nur bei o.g. einschlägigen Menschen festgestellt, auf die wohl am ehesten die „extreme male brain theory“ zutreffen mag.
    ——
    Wenn Autismus generell zu verminderter bis fehlender Empathie, Einfühlungs- und Selbstreflexionsvermögen, und damit einhergehend zu eigener Gesschlechts-Unsicherheit führen würden, müßten darüber aber inzwischen belastbare empirische Belege vorliegen.

    • @sabrina
      „Müßte es nicht heißen:
      „…und daher sich vielleicht auch eher für einen Jungen hält…(?!)

      Ja, natürlich, danke für den hinweis, habe ich korrigiert!

      „Mehr oder weniger ausgeprägten Autismus habe ich übrigens nur bei o.g. einschlägigen Menschen festgestellt, auf die wohl am ehesten die „extreme male brain theory“ zutreffen mag“

      Würde aus meiner sicht durchaus gut zusammen passen.
      ——
      „Wenn Autismus generell zu verminderter bis fehlender Empathie, Einfühlungs- und Selbstreflexionsvermögen, und damit einhergehend zu eigener Gesschlechts-Unsicherheit führen würden, müßten darüber aber inzwischen belastbare empirische Belege vorliegen.“

      Ich vermute es ist ein Zusatzfaktor, der die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass jemand die „Geschlechtsunsicherheit“ auslebt. Das ist ja auch eine sehr kleine Gruppe.
      Es gibt aber einige Studien dazu:

      https://scholar.google.de/scholar?hl=de&as_sdt=0%2C5&q=autism+gender+dysphoria&btnG=&oq=autism

    • Autismus geht nicht mit fehlender Empathie einher, sondern mit einer anderen Ausdrucksform für Empathie. Das Gefühlsleben von Autisten ist einfacher als bei Neurotypischen, aber durchaus intensiv und Empathie gibt es primär für die engere Umgebung. Autisten sind in der Regel tatsächlich eher sachorientiert und weit weniger emotionsgesteuert als neurotypische Menschen. Generalisieren kann man das aber nicht, da Autismus ein sehr weites Spektrum ist. Darüber gibt es längst einiges an Studien.

      ASD ist mit einem Verhältnis von 1:68 zur „normalen“ Bevölkerung nicht grade selten. Das Verhältnis male/female ist nach aktuellem Forschungsstand bei 2:1 dank besserer Diagnosemethoden. Auf YT gibt es diverse Fach-Vorträge von Tony Attwood zu diesen Themen.

      Was Geschlechtsdysphorie angeht, so haben das wohl etliche Autisten durchgemacht. Mich hat vor allem Punkt 2 getriggert. Ich bin schon im Kindergarten mit Jungs nicht gut zurechtgekommen, wollte mich auf der Seite der Mädchen umsehen und die waren zwar anders, aber trotzdem komisch. Abgelehnt wurde ich von beiden Seiten. Meine Diagnose bekam ich erst mit über 50, was so einiges in meinem bisherigen Leben erklärt hat.

      • Danke für die Infos, die zeigen, daß es sehr unterschiedliche Zugänge zu einer „Gescchlechtsdysphorie“ geben kann, und das Theorie 2 tatsächlich in der Realität vorkommt.
        Um so wichtiger ist die diagnostische Abklärung, ob faktenbasiert „Geschlechtsdysphorie“ vorliegt oder ob andere Gründe einer solchen Einshätzung zugrundliegen.
        Das neue „Selbstbestimmungsgesetz“ dürfte hierbei insbesondere für junge Menschen nicht gerade hilfreich sein…

          • Hier einige Fragen, die mir spontan einfallen:

            Wie war(en) Deine Reaktion(en) auf die Ablehnung durch die Jungen gegenüber den Jungen einerseits, und gegenüber den Mädchen andererseits (zwischenmenschliches Verhalten; geschlechtsspezifisch – rollenbezogen; Gefühlswelt).

            Wie bist Du in der Zwischenzeit (bis „mit über 50“) geschlechtsspezifisch mit Dir und Deiner Umgebung umgegangen, bzw. wie bist Du „unterwegs gewesen“; „bi-gender, a-gender“ etc. sind ja eher relativ neue „Modetrends“…

            Dein Logo deutet ja eher prononziert maskuline Identififationsmuster an; war das für Dich schon immer charakteristisch?

          • @Sabrina

            Reaktionen: Mit den Jungs bin ich deshalb nicht zurechtgekommen, weil es völlig unterschiedliche Interessenlagen gab. Die wollten Cowboy und Indianer spielen, ich habe mich für Wissenschaft und vor allem Raumfahrt interessiert. Die Mädchen wollten einfach nichts mit mir zu tun haben, weil ich ein Junge war. Das waren die 1960er mit noch anderen Denk- und Verhaltensmustern als heute. Ich habe mir dann halt eine Ecke gesucht und mich selbst beschäftigt. Ich wollte zwar irgendwie dazugehören, merkte aber deutlich, daß ich anders war. Separation hat mich auch ein bisschen vor Bullying geschützt. Das wurde erst später in der Schule schlimmer.

            Geschlechtsspezifisch: Es gab Gedankenspiele und Versuche mit anderer Geschlechtsidentifikation, aber mir wurde bald klar, daß das für mich nicht funktioniert. Ich war zu anders. Albernheiten wie „genderfluid“ oder „bi-gender“ kamen mir gar nicht in den Sinn. Ich fühlte mich eher wie ein Alien zu Gast auf einem fremden Planeten mit seltsamen Bewohnern. Und das ist heute noch so.

            Identifikationsmuster: Ja, das war für mich immer charakteristisch. Starke Affinität zu Waffen (Technik allgemein) findet man interessanterweise bei sehr vielen männlichen Autisten. (Nach persönlicher Beobachtung aber auch bei etlichen Frauen. Die Messersammlung meiner Frau ist weit größer als meine 😁). Als Autist beschäftigt man sich nun mal lieber mit simpler, oder logisch aufgebauter, zuverlässiger Technik, als mit eher unsteten sozialen Verhaltensmustern von Leuten, die eher emotionsgesteuert sind. Das zeigt sich auch in den Berufen, die ich ausgeübt habe, bzw. ausübe.

            Der Versuch, sich eine eigene (mentale) Welt zu konstruieren, in die man hineinpasst, ist allerdings auch typisch autistisch. Andererseits sind auch Autisten Menschen, die Kontakt zu ähnlichen oder gleichgesinnten suchen. Wenn man schon mit Neurotypischen nicht zurechtkommt … mit anderen Autisten ist das oft sehr viel einfacher, wie ich sehr viel später erfahren habe. Da ist dann auch die sonst so komplizierte soziale Interaktion recht gut. Könnte mir vorstellen, daß sich da einige in der Geschlechterdebatte kräftig verlaufen und sich eine falsche Identifikation aufgebaut haben, weil genug Bestätigung von außen kam.

          • @Sabrina

            Gerne. Eigentlich ist das alles noch recht oberflächlich und ließe sich sehr weit ausführen. Da könnte ich wohl etliche Seiten drüber dozieren, bräuchte aber jemanden, der thematisch moderiert, weil ich sonst vom hundertsten ins tausendste komme.

            Noch was zur Sexualität: Autisten reifen langsam und werden sehr viel später reif als Neurotypische, die sich teils schon mit in den frühen Teenagerjahren interessieren. Autisten, die erst Mitte 20 anfangen Partner zu suchen (sehr oft erfolglos) sind gar nicht selten.

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