Das Gender Equality Paradox besagt im wesentlichen, dass in Ländern mit mehr Gleichberechtigung die Rollen nicht schwächer, sondern stärker werden: Frauen entscheiden sich eher für klassische Frauenberufe etc.
Begründet wird dies klassischerweise damit, dass ihnen die Gleichberechtigung und der Wohlstand erlaubt ihre eigentlichen Vorlieben eher auszuleben als in ärmeren Ländern, in denen man zuerst schauen muss, dass das Geld reinkommt.
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Die These bereitet den feministischen Theorien eine Menge Probleme, da man dort ja annehmen müsste, dass mehr Freiheit für Frauen bedeutet, dass sie sich eher aus den Geschlechterrollen befreien.
Die Lösung ist also simpel: In Ländern, die wohlhabender und (auf dem Papier) gleichberechtigter sind, muss dann irgendwie doch wieder das Patriarchat seine Finger im Spiel haben und die Frauen von dem richtigen Pfad zurück in die Geschlechterrollen treiben.
Ein Ansatz dazu findet sich etwa hier:
Wie ist das Gender Equality Paradox zu erklären?
MINT-Abschlüsse bieten eine grössere finanzielle Sicherheit. Diese ist besonders in armen Ländern mit wenig sozialer Sicherheit wichtig (Stoet & Geary, 2020). Das gilt gleichermassen für Frauen und Männer. Aber warum nimmt die Differenz zwischen dem Anteil der MINT-Studenten und MINT-Studentinnen mit steigendem Wohlstand und steigender formaler Gleichheit zu?
Das Klischee «Mathe ist nichts für Mädchen» ist in reichen, egalitären Ländern weiter verbreitet als in armen, nicht-egalitären Ländern.
Wir erklären diesen Sachverhalt in vier Schritten. Im ersten Schritt ziehen wir die empirische Studie von Breda et al. (2020) heran. Die Autorinnen und Autoren zeigen, dass das Klischee «Mathe ist nichts für Mädchen» in reichen, egalitären Ländern weiter verbreitet ist als in armen, nicht-egalitären Ländern. Dieses Klischee erfasst vorherrschende Stereotypen in Bezug auf Präferenzen von Männern und Frauen, d.h. horizontale Geschlechternormen. Gleichzeitig wird in egalitären, reichen Ländern eine generelle Überlegenheit der Männer abgelehnt, wie dies etwa im Statement «ein Universitätsabschluss ist für Männer wichtiger als für Frauen» zum Ausdruck kommt, d.h. vertikale Geschlechternormen sind schwächer ausgeprägt. Folglich sind horizontale und vertikale Geschlechternormen negativ korreliert.
Die Studie von Breda et al 2020 ist diese:
The so-called “gender-equality paradox” is the fact that gender segregation across occupations is more pronounced in more egalitarian and more developed countries. Some scholars have explained this paradox by the existence of deeply rooted or intrinsic gender differences in preferences that materialize more easily in countries where economic constraints are more limited. In line with a strand of research in sociology, we show instead that it can be explained by cross-country differences in essentialist gender norms regarding math aptitudes and appropriate occupational choices. To this aim, we propose a measure of the prevalence and extent of internalization of the stereotype that “math is not for girls” at the country level. This is done using individual-level data on the math attitudes of 300,000 15-y-old female and male students in 64 countries. The stereotype associating math to men is stronger in more egalitarian and developed countries. It is also strongly associated with various measures of female underrepresentation in math-intensive fields and can therefore entirely explain the gender-equality paradox. We suggest that economic development and gender equality in rights go hand-in-hand with a reshaping rather than a suppression of gender norms, with the emergence of new and more horizontal forms of social differentiation across genders.
Quelle: Gender stereotypes can explain the gender-equality paradox
Hier wurden also die Vorurteile in Bezug auf Mathe und Mädchen mit den Mathefähigkeiten bzw dem Anteil der Mädchen, die Fächer gewählt haben, die mit Mathe zu tun haben, abgeglichen. Allerdings, wenn ich die Studie richtig verstehe, auf eine sehr merkwürdige Weise:
More specifically, GMS is a country-level standardized index based on average differences between boys’ and girls’ beliefs that “doing well in math is completely up to them” (B1) and that “their parents think that math is important for their career” (B2), conditional on their math ability. B1 should be more affected by
gender stereotypes regarding aptitudes for math, and B2 by stereotypes regarding appropriate educational and career choices. GMS is a valid measure of these stereotypes under the assumption that systematic differences in beliefs between girls and boys with similar measured ability are the product of social norms regarding gender roles in math. In this case, GMS recovers indirectly country-level social norms from the extent to which they are internalized by 15-y-old girls and boys.
Wenn ich es richtig verstehe, dann hat man zwei Fragen untersucht:
- gute Leistungen in Mathematik hängen ganz allein von ihnen ab B1
- ihre Eltern glauben, dass Mathe für ihre Karriere wichtig ist B2
Die Antworten b1 sollen dann von den Vorurteilen gegenüber Mädchen und Mathe abhängen und die Antworten B2 mit Vorurteilen bezüglich späterer Karrierewege
Das fragen sie aber aus meiner Sicht nicht so ab. Sondern sie fragen weit eher genau den Zusammenhang ab, der eigentlich untersucht werden soll:
In einem Land, wo einem Naturwissenschaftliche Fächer einen Ausstieg aus der Armut geben werden Leute eher die Auffassung vertreten, dass man sich halt zur Not durch Mathe durchquälen muss, auch wenn es einem keinen Spass macht, ungeachtet der Fähigkeiten. Und Mathe werden auch eher glauben, dass es – weil Ausstieg aus der Armut – für ihre Karriere wichtig ist.
Wenn jemand in Deutschland sagt, dass sie auch Lehrerin werden kann für Deutsch und Englisch, wenn ihr das besser passt, jemand in einem armen Land aber lieber will das sie Informatik studiert, dann hat das eben nichts mit Vorurteilen zu tun, sondern schlicht mit der Lebensrealität.
In einem zweiten Schritt kombinieren wir dieses Ergebnis mit einer Studie von Falk und Hermle (2018). Diese besagt, dass die Geschlechterdifferenz bei einer Vielzahl von Präferenzen in reichen, egalitären Ländern zunimmt. In unserem Zusammenhang ist besonders die Differenz in Bezug auf Altruismus wichtig. Im Einklang mit diesem Ergebnis, zeigen Eagly et al. (2020), dass in den USA in den letzten 80 Jahren mit steigendem Wohlstand die Stereotypisierung von Frauen als «communal» oder fürsorglich gestiegen ist, die von Männern aber nicht. Mit wachsendem Wohlstand unterscheiden sich die Präferenzen zwischen den Geschlechtern also nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb von Ländern. Die wachsende Geschlechterdifferenz in Bezug auf Altruismus ist bedeutsam, weil eine MINT-Karriere mehrheitlich als wenig kompatibel mit altruistischen Zielen betrachtet wird (Diekman et al., 2010). Daraus schliessen wir, dass es eine zunehmende Differenz in den Präferenzen für MINT-Fächer gibt.
Also Frauen möchten lieber Berufe in denen sie als fürsorglich und Helfend erscheinen (man könnte auch sagen „Leute-Jobs“) und das geben eben Jobs wie Informatik (oder „Dinge-Jobs“´) nicht in dem gleichen Maße her.
In einem dritten Schritt beziehen wir das Konzept der Identity Economics von Akerlof und Kranton (2000, 2005, 2010) ein. Individuen müssen Identitätskosten hinnehmen, sobald sie vorherrschende Identitätsnormen und Stereotypen verletzen. Diese Stereotypen unterscheiden sich – wie gezeigt – in reichen und in armen Ländern in Bezug auf Altruismus. Als Resultat steigen die Identitätskosten für Frauen, welche in reichen, egalitären Ländern MINT-Fächer wählen. Für Männer hingegen bleiben sie gleich.
Das höhere Einkommen in MINT-Berufen steigert demnach die Lebenszufriedenheit in reichen Ländern weniger als in armen Ländern.
Schliesslich ziehen wir das Ergebnis der Glücksforschung heran, wonach es einen abnehmenden Grenznutzen des Wohlstandes gibt (Layard et al., 2018). Das höhere Einkommen in MINT-Berufen steigert demnach die Lebenszufriedenheit in reichen Ländern weniger als in armen Ländern.
also noch einmal das Unterdrückungskonzept dargestellt:
- Frauen würden eigentlich durchaus Mathebezogene Sachen studieren.
- in armen Ländern sagt jeder: Klar mach das, du musst aus dem Sumpf der Armut herauskommen
- in reichen Ländern fehlt den Frauen aber diese Ausrede: Sie können ihren heimlichen Wunsch lieber Informatik zu studieren nicht umsetzen, weil jeder sagt, dass sie ja diesen Verrat an ihrer Weiblichkeit gar nicht nötig haben, denn die weiblichen Jobs zahlen ja gut genug und sie werden auch so nicht arm werden.
- Um nicht ihre Identität zu verlieren studieren sie daher schweren Herzens ein Frauenfach.
- Das Patriarchat reibt sich die Hände.
Im Ergebnis können wir mit unseren Überlegungen das zunächst kontraintuitive «Gender Equality Paradox» innerhalb eines ökonomischen Begriffsrahmens theoretisch erklären: Mit wachsendem Wohlstand nimmt der Zusatznutzen des Einkommens ab, gleichzeitig nehmen für Frauen die Identitätskosten bei der Wahl von MINT-Fächern zu. Dies führt zu einem relativ geringeren Anteil von MINT-Absolventinnen in diesen Ländern.
Also:
- Geld ist in reichen Ländern für Frauen nicht so wichtig
- Ihre Identität als Frau ist aber sehr wichtig und die erlaubt keine MINT-Fächer, weil das Männerfächer sind
Frauen entscheiden sich also lieber für Identität als für Geld. Lösung: Wir müssen Stereotype abbauen, die die Geschlechterrollen erzeugen. Dann können Frauen auch die Zusatznutzen des Einkommens verwirklichen und mehr verdienen, weil die Idenitätskosten nicht mehr entstehen.
Warum in reichen Ländern die Stereotypisierung von Frauen als «communal» oder fürsorglich zugenommen hat, ist bislang ungeklärt. Die Zunahme steht im Gegensatz zu empirischen Befunden, wonach überkommene kulturelle Prägungen von Werten und Normen sehr stabil sind (z.B. Alesina et al., 2013; Jayachandran, 2015).
Insgesamt führen unsere Überlegungen zu einer negativen Prognose für die Einkommensungleichheit von Frauen und Männern bei steigendem Wohlstand. Ein erster Schritt, um diese Hypothese zu testen, müsste eine Messung und ein Vergleich von Identitätskosten in reichen egalitären und in armen, nicht-egalitären Ländern umfassen. Dies würde eine bis jetzt ausstehende Operationalisierung des Begriffes der Identitätskosten einschliessen.
Eine wunderbar klassische feministishe Theorie. Sie blendet alles mögliche aus, aber sie führt ja zum richtigen Ergebnis und man hat endlich ein Gegenargument zum Gender Equality Paradox: Es sind die Geschlechterrollen! Und die schlagen eben gerade dann zu, wenn ansonsten die Länder gleichberechtigter sind. Vermutlich wegen des Backlash des Patriarchats.