Dank Arne bin ich auf dieses wunderbare Interview mit Conny Wunsch gestoßen, die noch einmal wunderbar zusammenfasst, warum der Gender Pay Gap wenig aussagt:
Frau Wunsch, Frauen verdienen in der Schweiz 700 Franken im Monat weniger als Männer, und man weiss nicht recht, warum. Linke und Gewerkschaften sagen «Allein, weil sie Frauen sind». Was sagen Sie?
Es gibt viele Gründe, warum Frauen und Männer unterschiedlich viel verdienen. Die Zahl von 700 Franken im Monat allein ist nicht aussagekräftig, denn eine Differenz beim Lohn heisst nicht, dass eine Lohndiskriminierung vorliegt. Diese Darstellung ist zwar weit verbreitet, sie stimmt so aber nicht.
Der Gender Pay Gap wird leider immer noch häufig als der Unterschied bei gleichen Jobs verstanden.
Gleichzeitig wissen glaube ich die meisten Frauen, dass sie nicht unfair bezahlt werden, weil sie ja häufig wissen, was die Kollegen und Kolleginnen verdienen und was sie jeweils dafür machen.
Die 700 Franken im Monat sind der sogenannte nicht erklärbare Teil des Lohnunterschieds. Was genau kann erklärt bzw. nicht erklärt werden?Das kommt darauf an, welche Faktoren man berücksichtigt und welche nicht. In der Lohnanalyse, die der Bund anhand der Lohnstrukturerhebung alle zwei Jahre veröffentlicht, sind das vor allem Alter, Ausbildungsniveau, Grossregion, Berufsart, Führungsverantwortung, Branche und Dienstalter. Die tatsächliche Berufserfahrung hingegen wird nicht erhoben, obwohl sie für den Lohn eine entscheidende Rolle spielt. Gerade bei der Berufserfahrung gibt es deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Ein Grossteil des Lohnunterschieds dürfte darauf zurückzuführen sein.
Das Faktoren da hineinspielen, die ganz rational zu Unterschieden führen und bei denen Frauen und Männer sich eben unterschiedlich verhalten kommt oft nur sehr zurückhaltend zur Sprache. Die Schreckensnachricht über besonders hohe Lohnlücken macht halt einfach mehr her.
Die Zahlen des Bundes zur Lohnungleichheit von Mann und Frau ergeben also ein lückenhaftes Bild?
Das tun sie zwangsläufig, denn es ist faktisch nicht möglich, in der Vergleichsstatistik sämtliche lohnbestimmenden Merkmale zu berücksichtigen. Deshalb ist die Kommunikation wichtig: Die Öffentlichkeit sollte besser verstehen, dass die «nicht erklärbare» Lohndifferenz nicht mit einer Diskriminierung der Frauen gleichzusetzen ist.
Das viele Faktoren unberücksichtigt bleiben und die Bereinigung weiter betrieben werden kann hatten wir schon häufiger, zB hier unter dem Stichwort Feminismus und Gender Pay Gap und das „Argument, das an Nichtwissen appelliert“
Sie selber sind mit eigenen Berechnungen auf deutlich tiefere Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen gekommen als der Bund mit seinem Standardmodell. Woran liegt das?
Frauen und Männer sind oft nicht miteinander vergleichbar. Es gibt nicht immer für jede Frau mindestens einen Mann mit identischen Merkmalen, um den Vergleichslohn zu bestimmen. Moderne Analysemethoden tragen diesem Umstand Rechnung. Demnach beträgt die Lohndifferenz in der Privatwirtschaft 6 Prozent, im öffentlichen Sektor liegt sie bei gut 3 Prozent. Der Bund geht von rund 8 bzw. 6 Prozent aus.
Und auch da gilt eben wieder: Eine weitere Bereinigung kann möglich sein. Um so mehr Faktoren man hat um so weiter kann üblicherweise der Unterschied aufgeklärt werden.
Was kann man mit der Lohngleichheitsanalyse des Bundes denn konkret vergleichen?
Man kann zum Beispiel vergleichen: Mann und Frau, 40 Jahre alt, kaufmännischer Abschluss, tätig als Sachbearbeiter innerhalb einer Versicherung in der Region Basel, gleich lang bei der Firma tätig. Ob der Mann insgesamt 20 Jahre Erfahrung hat und die Frau bloss 5 Jahre, bevor sie in die Firma eingetreten sind, wird nicht erfasst, da man die Berufserfahrung wie erwähnt nicht erhebt. Dazu müsste man Daten aus der AHV-Statistik beiziehen.
Die Beschränktheit der diesbezüglichen Daten ist leider nicht bekannt. Der Arbeitgeber übersendet ja dem Bund keine Arbeitsanalysen oder Bewertungen der jeweiligen Arbeitgeber.
Wie sieht es aus bei den Universitätsabschlüssen? Zählt ein Abschluss in Sozialwissenschaften gleich viel wie ein Abschluss in Ökonomie?
Man sieht nur, dass jemand studiert hat, aber nicht, welches Fach. Dasselbe gilt auch für die Berufsabschlüsse. Man kennt zudem die Branche sowie die Berufsgruppe. Man kann die Tätigkeit, die ausgeübt wird, also nur bis zu einem gewissen Grad differenzieren.
Also ein Blindflug, der viel zusätzliche Aufklärung erforderlich macht. Dennoch wird der GPG in der feministischen Debatte wie ein tatsächlicher Unterschied gewertet über den man sich aufregen darf.
Sie sagen: nur bis zu einem gewissen Grad. Namentlich bei Kaderstellen dürfte es in der Realität grosse Unterschiede in der Tätigkeit geben.
Die Lohnanalyse unterscheidet nicht zwischen dem CEO eines Grosskonzerns und der Geschäftsführerin eines KMU. Zwischen diesen beiden ist die Lohndifferenz natürlich frappant. Und das schlägt sich in der Statistik nieder, obwohl der unterschiedliche Verdienst sachlich begründet ist.
Eben. Größere Verantwortung, komplexere Vorgänge etc.
Welche Rolle spielt der Zivilstand?
Der Zivilstand ist für den Lohn nicht relevant. Was man aber sieht, ist, dass Frauen im Durchschnitt weniger arbeiten, wenn sie verheiratet sind und Familie haben. Solange sie nicht verheiratet sind und keine Kinder haben, verhalten sie sich im Durchschnitt faktisch wie Männer und arbeiten grösstenteils Vollzeit.
Die Lohnschere zeigt sich eben erst, wenn Kinder kommen.
Reduziert eine Frau ihr Arbeitspensum, geht dann auch ihr auf eine Vollzeitstelle hochgerechneter Lohn zurück?
Dafür gibt es in der Schweiz keine Evidenz. Frauen mit Kindern wählen aber oftmals andere Berufe, nämlich solche, die ihnen mehr Flexibilität geben. Dadurch wird dann die Lohnspanne grösser.
Das finde ich auch immer wieder erstaunlich: Der Gender Pay Gap tut so als gäbe es nur ein Kriterium, welches für den Arbeitgeber interessant ist: Geld.
Führt man dann an, dass es viele weitere Faktoren gibt, wie etwa Flexibilität oder kurze Fahrtstrecken und das Frauen diese anscheinend im Schnitt höher bewerten ist das Erstaunen groß
Wird die Leistungsbereitschaft, die ein Mitarbeiter, eine Mitarbeiterin aufweist, bei den Lohnanalysen irgendwie erfasst?
Es ist nicht möglich, mit objektiven Daten Leistungsunterschiede zu messen. Auch die zeitliche Flexibilität, die ein Job verlangt, wird nicht erfasst. Es ist ja häufig so, dass Jobs, die mit vielen Reisen verbunden sind, höher entlöhnt sind. Frauen mit Kindern entscheiden sich häufiger gegen solche Stellen als Männer.
Wer eben drei Monate in China auf Montage ist der erhält sehr hohe Zuschläge, ist aber eben auch drei Monate nicht zuhause.
Grössere Firmen müssen neu Lohngleichheitsanalysen durchführen. Gemäss den bisherigen Ergebnissen überschreitet kaum eine Firma die Toleranzschwelle von 5 Prozent. Ist das nicht ein Widerspruch: Laut dem Bund gibt es schweizweit einen unerklärten Lohnunterschied, in den Firmen selber findet man ihn aber nicht?
Die schweizweiten Lohnanalysen vergleichen Männer und Frauen aus verschiedenen Unternehmen. Wenn man den Lohn eines Mannes nimmt, der bei einer besser zahlenden Firma arbeitet, und ihn mit jenem einer sonst identischen Frau vergleicht, deren Arbeitgeber den Angestellten weniger Lohn bezahlt, entsteht eine Lohndifferenz. Wenn man dagegen die Löhne von sonst identischen Männern und Frauen in ein und demselben Unternehmen vergleicht, hat man diese Differenz nicht. Das Lohnwesen ist im öffentlichen Sektor und in grossen Firmen heute so stark reguliert, mit Lohnklassen oder Lohnstufen, dass es praktisch ausgeschlossen ist, Männer und Frauen unterschiedlich zu bezahlen.
Merkwürdig, da findet man einfach nichts, wenn man mal genauer schaut und wirklich gleiche Jobs betrachtet.
Wie sieht es bei den KMU aus?
Die Lohnunterschiede dürften bei kleineren Firmen grösser sein, nicht zuletzt, weil es dort mehr Spielraum bei der Ausgestaltung des Lohns gibt.
Es gibt die Forderung, auch kleinere Unternehmen zu Lohngleichheitsanalysen zu verpflichten. Was meinen Sie?
Es ist sicher keine schlechte Idee, wenn auch kleinere Firmen ein Selbstmonitoring machen. Problematisch finde ich aber, wenn man Konsequenzen daran knüpft, etwa, dass sich Firmen nicht mehr auf öffentliche Ausschreibungen bewerben dürfen, wenn sie die Toleranzschwelle von 5 Prozent überschreiten. Lohngleichheitsanalysen können nie perfekt sein, deshalb sollte man sie nicht überbewerten.
Immer mehr Bürokratie belastet natürlich auch die Unternehmen. Andererseits haben solche Analysen den Vorteil, dass sie deutlich machen, dass eben tatsächlich kein Lohngefälle vorliegt
Ganz allgemein: Was halten Sie vom Argument «Wenn Frauen beim Lohn tatsächlich günstiger wären, würden Firmen nur noch Frauen anstellen»?
Das sagt die ökonomische Theorie. Solche Firmen hätten dann einen Wettbewerbsvorteil.
Klar Antwort.
Gibt es in der Praxis noch Arbeitgeber, die Frauen systematisch weniger bezahlen?
Es mag noch einige Firmen geben, bei denen das tatsächlich so spielt und bei der man einer Frau zuerst einmal bewusst weniger zahlt. Ich denke aber nicht, dass das heute noch in einem grösseren Ausmass vorkommt. Was vermutlich viel eher passiert, ist, dass ein kleines Unternehmen nur wenig Geld zur Verfügung hat. Es schreibt eine Stelle aus, für die man in einem Grossunternehmen deutlich mehr verdienen könnte. Mit grosser Wahrscheinlichkeit sind es Frauen, die sich bewerben, weil ihnen ein kurzer Arbeitsweg oder flexible Einsätze wichtiger sind als ein hoher Lohn. Ist das Lohndiskriminierung?
Kleinere Unternehmen können weniger Zahlen, aber dafür sind sie eben eher vor Ort und das kann sie attraktiver machen
Was ist Ihre Meinung? Ist es Lohndiskriminierung?
Da tu ich mich schwer. Wenn eine Firma finanziell eng drin ist und sich in erster Linie Frauen bewerben, kann man ihr keinen Vorwurf machen, wenn sie die Frauen einstellt. Wenn ein Mann den Job akzeptiert hätte, hätte er ebenso wenig verdient. Doch der Mann nimmt eher den längeren Arbeitsweg in Kauf, weil er mehr Lohn will. Hinzu kommt, dass Frauen tendenziell weniger über den Lohn verhandeln als Männer, gerade beim Einstiegsgehalt. Ich empfehle jeder Frau, dies zu tun und ihren Lohn einzufordern. Doch Frauen sind oft risikoaverser als Männer.
Das macht auch noch einmal deutlich, dass unterschiedliche Löhne eben auch auf anderen Faktoren des Jobs beruhen können
Was halten Sie von folgender These: Frauen gehen davon aus, sie würden in der Finanzbranche eh benachteiligt, und suchen sich deshalb von vorneherein einen Beruf im Gesundheitswesen.
Im Einzelfall ist dies sicher möglich, aber ich bezweifle, dass dies in grösserem Umfang passiert. Es gibt Studien, gemäss denen Frauen eher davor zurückschrecken, sich kompetitiven Situationen auszusetzen. Das ist aber ein anderer Mechanismus, als sich zu sagen: In der Finanzbranche habe ich ohnehin keine Chance. Man weiss, dass der künftige Verdienst und die Karriereaussichten bei der Studienwahl eine kleinere Rolle spielen als andere Faktoren, etwa das persönliche Interesse.
Und wieder: Der Beruf in dem man viel Geld verdient kann eben stressig und konkurrenzbetont sein und deswegen uninteressanter für Leute, die das nicht wollen.
Und dennoch entscheiden sich Frauen tendenziell für andere Berufe als Männer. Warum?
Ich komme aus Ostdeutschland. Wer in Mathematik oder Technik talentiert war, wurde gefördert, egal, ob Mädchen oder Junge. Da hatte man diese Segregation bei den Berufsbildern lange nicht so stark wie hier. Deshalb muss sehr früh angesetzt werden, um Berufsstereotype aufzubrechen. Hinzu kommen die sozialen Normen. In Ostdeutschland war es üblich, dass beide Elternteile arbeiteten. Die Schweiz hat eine der grössten Erwerbsbeteiligungen der Frauen am Arbeitsmarkt, aber sobald Kinder da sind, brechen die Pensen ein.
Da hätte sie natürlich auch noch andere interessante Studien anführen können, aber das ist vielleicht auch nicht ihr Bereich
Weil man es sich als Frau in der Schweiz leisten kann, weniger zu arbeiten?
Mein Eindruck ist, dass viele Frauen sich bewusst und aus eigenem Antrieb dafür entscheiden, Teilzeit zu arbeiten. Und das hat natürlich Folgen für die Karriere und den Lohn.
Auch gut, das mal auszusprechen.
Unter dem Artikel war noch etwas zu ihrer Person:
Conny Wunsch ist ordentliche Professorin für Arbeitsmarktökonomie an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel. Sie hat in St. Gallen promoviert und ist seit 2013 in Basel tätig. Conny Wunsch hat verschiedentlich zum Thema Lohngleichheit publiziert. Zusammen mit Anthony Strittmatter vom Institut Polytechnique in Paris legte sie 2021 in einer Studie dar, dass die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern deutlich geringer ausfallen, wenn moderne Vergleichsmethoden zur Anwendung kommen statt des Standardverfahrens, wie es der Bund verwendet.
Die Studie habe ich noch mal kurz rausgesucht:
The vast majority of existing studies that estimate the average unexplained gender pay gap use unnecessarily restrictive linear versions of the Blinder-Oaxaca decomposition. Using a notably rich and large data set of 1.7 million employees in Switzerland, we investigate how the methodological improvements made possible by such big data affect estimates of the unexplained gender pay gap. We study the sensitivity of the estimates with regard to
i) the availability of observationally comparable men and women,
ii) model flexibility when controlling for wage determinants, and
iii) the choice of different parametric and semiparametric estimators, including variants that make use of machine learning methods.We find that these three factors matter greatly. Blinder-Oaxaca estimates of the unexplained gender pay gap decline by up to 39% when we enforce comparability between men and women and use a more flexible specification of the wage equation. Semi-parametric matching yields estimates that when compared with the Blinder-Oaxaca estimates, are up to 50% smaller and also less sensitive to the way wage determinants are included
Quelle: The Gender Pay Gap Revisited with Big Data: Do Methodological Choices Matter?