„Es ist nicht möglich festzustellen, was biologischer und was sozialer Anteil ist“

Ein Argument, welches in Diskussionen gerne kommt, ist, dass es quasi unmöglich ist zu sagen, was der biologische Anteil eines Verhaltens ist und was der soziale Anteil:

Hier kommt das Argument beispielsweise von Maren:

Die einzelnen Einflüsse sind schwer zu untersuchen/unterscheiden, weil auf Kinder/Erwachsene täglich so eine Masse an Informationen einströmt, und weil Menschenversuche unethisch sind. Von daher ist es relativ unklar, welche Aspekte biologisch und welche sozial bedingt sind.

Ich meine auch Joachim verwendet es des häufigeren, finde aber gerade keine passende Stelle.

Meiner Meinung nach ist das so nicht richtig. Oder würde jedenfalls dazu führen, dass man auch in der gesamten Soziologie keinerlei Theorien dazu aufstellen könnte, wodurch ein bestimmtes Geschlechterverhalten hervorgerufen wird. Denn wenn man dort eine gewisse Korrelation zu einem Erziehungsstil feststellt, dann muss man ja auch in irgendeiner Form diesen Erziehungsstil gewichten und und einordnen und dann die Auswirkungen zuordnen. Wenn man also zB feststellt, dass Erziehungsstil Y ein Verhalten auf einer Skala von 1 (weiblich) zu 5 (männlich) von 5 hervorruft, dann kann man eben auch biologische Faktoren hierzu in Bezug setzen. Wie reagieren dann Mädchen mit einem pränatalen Testosteronlevel von 10 statt den zB für Mädchen üblichen 1 auf den genau gleichen Erziehungsstil Y, den man vorher noch genau einordnen konnte? Zeigen sich hier deutliche Abweichungen untereinander, die in einer Übereinstimmung mit der Höhe des Testosteronspiegels sind, dann kann man zumindest eine entsprechende Korrellation feststellen. Überprüft man dann noch, ob Mädchen mit eine, pränatalen Testosteronlevel von 10 sich äußerlich stark von solchen mit einem pränatalen Testosteronlevel von 1 optisch abweichen und kommt man zu dem Ergebnis, dass das nicht der Fall ist, dann spricht alles dafür, dass der Testosteronlevel sich entsprechend auswirkt.

Wer nun anfängt, dass hier aber weitere ungeklärte Umstände vorliegen können, die das Ergebnis bewirken, der muss dies eben auch bezüglich der Erziehungsstile gelten lassen.

Sprich: Um so mehr Genauigkeit man der Forschung zum sozialen Anteil zubilligt um so mehr Genauigkeit muss man auch der Abgrenzbarkeit von sozialen und biologischen Faktoren zusprechen.

Wechselwirkung von biologischen und sozialen Faktoren (Anlage-Umwelt-Kovariation)

David führte in einem Kommentar noch etwas zu der Wechselwirkung von biologischen und sozialen Faktoren an:

Mal 4 Punkte, die in der Anlage-Umwelt-Debatte immer wieder unter den Tisch fallen, da fälschlicherweise eine Unabhängigkeit der Faktoren angenommen wird:

o) Merkmale haben keine fixen Heretabilitätswerte.
Sie gelten immer nur bei einer spezifischen Umweltvarianz. Das heißt wenn alle Kinder vom Bildungssystem gleich stark gefördert werden und es geringe soziale Diskrepanzen gibt, ist die genetische Heretabilität hoch.
Herrschen jedoch sehr ungleiche Bedingungen, also eine hohe Umweltvarianz, dann ist die Heretabilität geringer.

Ein interessanter Punkt: Um so mehr Chancengleichheit es auf sozialer Ebene gibt um so eher werden biologische Faktoren betont. Wo früher auch ein intelligenter Mensch mangels Bildung nicht viel erreichen konnte, kann er nunmehr bei allgemeiner Schulpflicht besondere Leistungen vollbringen. Bereits aus diesen Gründen wird eine Gleichheit schwer zu erreichen sein.

o) Eltern und ihre Erziehung ist nicht nur ein wesentlicher Umweltfaktor. DIe Eltern teilen mit ihrem Kind auch die Gene, sind somit Umwelt und Gene zugleich.

Ein sehr gerne gemachter Fehler, der insbesondere in der Soziologie zu wenig beachtet wird. Wenn Kinder sich wie ihre Eltern verhalten, dann muss dies nicht ohne weiteres auf die Erziehung zurückzuführen sein. Es können ebenso bestimmte Gene und Veranlagungen sein, die sie ihren Eltern sehr ähnlich werden lassen

o) Ein Kind nimmt mit seinen Dispositionen aktiv Einfluss auf seine Umgebung, “schafft” sich seine Umwelt selbst, indem es aus verschiedenen Interaktionsangeboten auswählt.

Ähnliches hatte ich schon einmal hier geschrieben. Ein Kind kann eben bis zu einem gewissen Grad auch Freund aussuchen und das er gerade in dieser oder jener Gruppe landet ist eben nicht einfach nur Glück oder Pech, sondern kann auch mit einer gewissen Ähnlichkeit des Charakters (auch möglicherweise aufgrund biologischer Umstände) beruhen etc. Er kann sich einer Jugendgang anschließen oder diese meiden.

o) Damit wirkt es zurück auf seine Umwelt, es konditioniert z.B. die Eltern darauf, was ihm gefällt und was nicht. Diese passen sich somit in ihren Interaktionsangeboten den disponierten Bedürfnissen des Kindes an usw.

Auch das eine wichtige Erkenntnis: Wie ich in dem oben verlinkten Artikel schon zitierte: „der Junge kommt aus einer kaputten Familie” “Ja, ein Junge wie er bekommt jede Familie kaputt”. Diese Wirkung wird häufig unterschätzt. Ein Kind´, mit dem die Eltern nicht fertig werden, kann eben auch eine starke Unstimmigkeit in die Familie bringen. Genauso kann ein anderes Kind eben einen großen Wissensdurst haben und die Eltern deswegen drängen ihm bestimmte Bücher zu verschaffen oder bestimmte Wissenschaftssendungen im Fernsehen zu sehen.

Aufgrund dieser komplexen Wechselwirkung spricht man von Anlage-Umwelt-Kovariation.

Noch einmal eine schöne Zusammenstellung von David.

Anlage und Umwelt verhalten sich zueinander wie Gelände und Stadt

Gerade in einem bereits älteren Kommentar noch einmal wiedergefunden:

N. Bischof, ein Schüler von K. Lorenz, hat das Verhältnis von Natur und Kultur sinngemäss mit folgender Metapher beschrieben: Eine gewachsene Stadt ist der Topographie der Landschaft angepasst. Je markanter die Landschaft ist (durch Hügel, Schluchten, Gewässer), desto eingeschränkter sind die Stadtentwicklungsmöglichkeiten. Ein Schachbrettmuster kann nicht überall umgesetzt werden, die Strassen würden zu steil.
Die kulturelle Freiheit gegenüber der Natur ist graduell

Finde ich nach wie vor einen interessanten Vergleich: Kultur ist insoweit nicht frei, sie folgt dem vorgebenen Muster, der Landschaft, entwickelt sich auch mit gewissen neuen „Bauchtechniken“ aber sie muss eben immer berücksichtigen, dass sie auf einem bestimmten Gelände gebaut worden ist, welches die Grundlagen bereit stellt.

Nochmal: Freier Wille vs. biologische Dispositionen

Leser Red Pill fasst einen der wichtigsten Punkte in der Anlage-Umwelt-Debatte bzw. im Verhältnis von Nature und Nurture kurz zusammen:

Was Heerscharen von halb intelligenten Sozial IngenieurInnen nicht begreifen können oder wollen, ist die simple Tatsache, dass der Mensch seine Flexibilität eben gerade dazu einsetzt, um seiner instinktuellen Disposition möglichst nahe zu kommen.

Man kann es auch mit Schopenhauer sagen:

Wir sind frei, zu tun, was wir wollen, aber nicht frei, zu wollen was wir wollen.“

Oder man kann es in eine „der Elefant und sein Reiter„-Metapher bringen:

Dort geht es unter anderem darum, ob unser logisches Denken oder unser unterbewußtes, emotionales, instinktives Denken unser Handeln beherrscht. Dazu wird die Metapher des Elefanten und seines Reiters bedient:

Der Elefant ist das unterbewußte, emotionale, instinktive Denken, der Reiter das logische Denken. Nun besteht die Möglichkeit, dass der Reiter nur auf dem großen und schweren Elefanten sitzt und all seine Bemühungen, den Elefanten in einer andere Richtung zu bewegen, egal sind, wenn der Elefant nicht in diese Richtung will oder aber der Elefant kann den Vorgaben seines Reiters willig folgen.

In dem Buch kommt Haidt zu dem Schluß, dass der Reiter einen geringen Einfluss hat, der Elefant gibt den Weg vor. Der Reiter muss sich bestimmte Schwankungen des Elefanten zu Nutze machen und ihn dann, wenn er gerade in eine bestimmte Richtung schwankt, in diese lenken. Häufig bleibe dem Reiter aber sogar nichts anderes übrig als hinterher eine Begründung dafür zu suchen, warum er ebenfalls genau in diese Richtung wollte (sprich: unser Gehirn rationalisiert nachträglich bestimmte emotionale Entscheidungen als vernünftig).

Wichtig ist dabei, sich bewußt zu machen, dass wir bereits dem Gehirnaufbau nach noch viele sehr alte Strukturen haben (Stammhirn, Kleinhirn, Zwischenhirn und Großhirn) und unser Gehirn in seiner Grundarbeitsweise nicht so unterschiedlich von anderen Tierhirnen und insbesondere auch nicht von dem Gehirn anderer Primaten ist.

Auch sollte man sich bewußt machen, dass alle evolutionäre Entwicklung des Gehirns nicht auf eine abstrakte Verbesserung der Gehirnleistung gerichtet ist, sondern eine Selektion der Gene erfolgt, die die meisten Nachkommen bringen, die sich dauerhaft selbst fortpflanzen. Damit bietet sich die oben genannte Verteilung geradezu an:

An der Wichtigkeit der Dispositionen hat sich nichts geändert: Nach wie vor geht es darum einen guten Partner zu finden und sich mit diesem fortzupflanzen (bzw. die Handlungen auszuführen, die üblicherweise dazu führen). Selbst die Kriterien dafür sind relativ gleich geblieben: Guter Status wird zwar Kulturell anders begründet als früher, das Konzept ist allerdings gleich geblieben. Wir wollen uns immer noch Fettreserven für schlechte Zeiten zulegen, wir wollen immer noch möglichst den Raum im Überblick haben und uns den Rücken frei halten etc.

Das Gehirn erlaubt uns nun, diese  Dispositionen auf verschiedenste, teilweise sehr komplizierte Wege auszuleben. Das bedeutet aber nicht, dass wir tatsächlich einen freien Willen haben, in dem unsere biologisch vorgegebenen Dispositionen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Vielmehr bestimmen diese eben, was wir gerne wollen, was uns in kulturell ausgeformter Weise wichtig ist, unser Gerechtigkeitsgefühl etc.

Das Strategic Pluralism Model

Eine interessante Betrachtung zum „Paarungsverhalten“ beim Menschen liefert das Strategic Pluralism Modell, dass stärker als die Sexual Strategies Theory (SST) darauf abstellt, dass verschiedene Situationen verschiedene Verhaltensweisen erforderlich machen:

During human evolutionary history, there were “trade-offs” between expending time and energy on child-rearing and mating, so both men and women evolved conditional mating strategies guided by cues signaling the circumstances. Many short-term matings might be successful for some men; others might try to find and keep a single mate, investing their effort in rearing her offspring. Recent evidence suggests that men with features signaling genetic benefits to offspring should be preferred by women as short-term mates, but there are trade-offs between a mate’s genetic fitness and his willingness to help in child-rearing. It is these circumstances and the cues that signal them that underlie the variation in short- and long-term mating strategies between and within the sexes.

Quelle: The evolution of human mating: Trade-offs and strategic pluralism

Dazu aus dem Artikel:

In the last two decades, evolutionary theorists have begun to acknowledge that selection pressures should not have produced a single “best” mating tactic (or mixture of tactics) for males and females in most species. Instead, selection should have fashioned considerable phenotypic diversity in mating (Gross 1996). Guided by concepts from game theory (Maynard Smith 1982 [see also Maynard Smith “Game Theory and the Evolution of Behaviour” BBS7(1) 1984]) and the theory of evolutionarily stable strategies (Dawkins 1980; Parker 1984), evolutionary biologists are now documenting how having alternative mating tactics gives individuals of each sex differential reproductive fitness in various species. Although relatively little theory and research have focused on the mating behavior of human beings, hundreds of studies have confirmed that males and females in a wide range of species display alternative mating tactics that reflect conditional strategies (Gross 1996). Burley’s (1986) finding that male zebra finches’ relative allocation of parental effort and extrapair mating effort is contingent on their attractiveness is a good illustration of a conditional strategy. Conditional strategies have five main properties (see Gross 1996):

(a) They involve different behavioral tactics that are consciously or unconsciously “chosen” by an individual;

(b) the choices between tactics are “made” in response to specific features or cues in the environment, often an individual’s status or attractiveness relative to other individuals;

(c) all individuals are genetically monomorphic (i.e., they are are genetically designed to enact the same tactics);

(d) during their evolution, the average adaptive values of different tactics were not equal except at a “switchpoint” on a continuum of environmental input (e.g., individuals’ relative status) where the costs and benefits of each tactic balanced out; and

(e) during their evolution, the chosen tactic tended to yield higher fitness for the individual than other tactics given current environmental conditions.

Thus, the environmental conditions moderate the fitness gains of pursuing different tactics (e.g., exerting parental effort, pursuing short-term matings), thereby affecting the optimal allocation of effort to different tactics. If males differ in the conditions under which they engage in different tactics, they are enacting alternate conditional strategies. Although alternate strategies can be noncontinuously distributed in a population (e.g., if certain males never invest in offspring and always seek short-term mates), they are usually distributed continuously. This should occur if males differ in how long they tolerate their mate’s absence before pursuing other mates, or if males differ in the degree to which they expect extra-pair mates to have certain desirable attributes (Dominey 1984). Alternate strategies can reflect genetic polymorphisms (see Gross 1996). Although such polymorphisms exist in nature and may underlie certain variations in human mating strategies (see Gangestad & Simpson 1990; Wilson 1994), we focus on conditional strategies in this article.

Und aus der Zusammenfassung:

Mating tactics are highly variable in both men and women and have evolved to be contingent on environmental factors. Complete theories of mating strategies must account for these individual differences and contextual effects. We have proposed that these phenomena cannot be fully understood without considering the nature of the trade-offs that underlie mating decisions in humans. We suggest that good gene sexual selection, in concert with good-parenting sexual selection, may have generated the variation and contextual effects associated with the short- and long-term mating tactics witnessed in both sexes. Given the demands of biparental care during evolutionary history, both men and women were selected to use long-term mating tactics and invest in offspring. However, they were also selected to use ecologically contingent, conditional mating strategies, dedicating some effort to shortterm and extra-pair mating under specific conditions.

Women may have evolved to trade off evidence of a man’s genetic fitness for evidence of his ability and willingness to invest in offspring. The specific mating tactics and preferences women adopted, however, depended on the nature and quality of their local environment. If the local environment was difficult and demanded biparental care, women placed more weight on the investment potential of prospective mates and less weight on indicators of their genetic fitness. As a result, a larger proportion of women adopted long-term mating tactics almost exclusively. If, on the other hand, the pathogens were prevalent in the local environment (or the environment signaled the importance of the genetic fitness of offspring), women placed more weight on indicators of the genetic fitness of prospective mates. In such environments, a larger proportion of women were willing to engage in short-term, extra-pair matings, allowing them to gain genetic benefits from men who provided less parental investment at the risk of losing parental investment from their primary mates. The mating tactics and preferences of women accordingly reflected the nature and quality of the environments in which they lived.

Whereas women “tracked” their environment, men tracked and adjusted their mating tactics and preferences to the behavior of women (Thiessen 1994). If most women expected heavy paternal investment, most men (especially those who displayed less fitness) offered more and perhaps exclusive parental investment, dedicating a greater portion of their effort to long-term mating tactics and parental investment. As a result, variance in men’s mating success was reduced. If women’s “demand” for genetic benefits increased, some men (especially those advertising such benefits) dedicated more effort to short-term, extra-pair mating tactics, thereby increasing variance in mating success among men. Only a small proportion of men (i.e., those who displayed the most fitness) were able to carry out short-term tactics successfully at all times, regardless of the environmental factors to which women were responding.

Hier zeigt sich auch gut das Zusammenspiel von biologischen Modellen mit der Umwelt. Je nach dieser können sich andere Verhaltensweisen lohnen. Auch wenn dadurch ganz andere Kulturen entstehen, kann das Modell, welches diesem Verhalten zugrundelegt, biologisch sein.

Der Wechsel der Geschlechterrolle bei albanischen Burrnesha

In Albanien gab es wohl eine Tradition, bei der bestimmte Frauen als Männer gelebt  haben:

Albanian sworn virgins (Albanian: burrnesha or virgjinesha) are women who take a vow of chastity and wear male clothing in order to live as men in the patriarchal northern Albanian society

Zu den Hintergründen dafür:

The tradition of sworn virgins developed out of the Kanuni i Lekë Dukagjinit (English: The Code of Lekë Dukagjini, or simply the Kanun),[5] a set of codes and laws developed by Lekë Dukagjini and used mostly in northern Albania and Kosovo from the 15th century until the 20th century. The Kanun is not a religious document – many groups follow it including Roman Catholic, Albanian Orthodox, and Muslims.[6] The Kanun dictates that families must be patrilineal (meaning wealth is inherited through a family’s men) and patrilocal (upon marriage, a woman moves into the household of her husband’s family).[7] Women are treated like property of the family. Under the Kanun women are stripped of many human rights. They cannot smoke, wear a watch, or vote in their local elections. They cannot buy land, and there are many jobs they are not permitted to hold. There are even establishments that they cannot enter.[4][6] The practice of sworn virginhood was first reported by missionaries, travellers, geographers and anthropologists who visited the mountains of northern Albania in the 19th and early 20th centuries

A woman becomes a sworn virgin by swearing an irrevocable oath, in front of 12 village or tribal elders, to practice celibacy. Then she is allowed to live as a man. She will then be able to dress in male clothes, use a male name, carry a gun, smoke, drink alcohol, take on male work, act as the head of a household (for example, living with a sister or mother), play music and sing, and sit and talk socially with men.[4][8][9] A woman can become a sworn virgin at any age, either to satisfy her parents or herself.

Dieser Brauch wurde mir in Diskussionen von Vertretern der Genderseite schon häufiger entgegen gehalten. Dabei ist der Aussagegehalt relativ gering. Die Praxis wurde trotz sehr schlechter Umstände für Frauen nie von vielen Frauen umgesetzt und blieb die Ausnahme. Es fehlen alle Angaben dazu, wie stark die Frauen tatsächlich in die Männerrolle gewechselt sind oder ob sie nur bestimmte Tätigkeiten übernommen haben, es fehlt an Angaben, wie sie sich dabei gefühlt haben und ob es ihnen leicht fiel. Und vor allem wird hier in keiner Weise geprüft, ob biologische Faktoren auch hier eine Rolle spielen.

Zur Motivation heißt es in der Wikipedia:

There are many reasons why a woman would have wanted to take this vow, and observers have recorded a variety of motivations. One woman said she became a sworn virgin in order to not be separated from her father, and another in order to live and work with her sister. Several were recorded as saying they always felt more male than female. Some hoped to avoid a specific unwanted marriage, and others hoped to avoid marriage in general.

Wenn ein Kind sich schon immer mehr als ein Mitglied des anderen Geschlechts fühlt, dann liegt es nahe, dass es einen gewissen Zusammenhang mit Transsexualität gibt. Und bei dieser ist ein biologischer Zusammenhang gut nachgewiesen. Oder es handelt sich bereits vorher um relativ männliche Frauen, z.B. in Richtung der Tomboys, etwa aufgrund eines sehr hohen pränatalen und auch postnatalen Testosteronspiegels.

Diana Rakipi, eine Burrnesha, führt dazu aus:

“I grew up playing with boys. Since I was a kid I was always surrounded by men, I always preferred their company to girls. My brother died before I was born. My mother would always say to me, ‘you are just like him’. So it was always expected I would kind of just take his place,”

Sie spielte schon immer mit den Jungs, sie war lieber in der Gesellschaft von Jungs, sie war genau wie ihr Bruder. Das klingt nicht nach einem Rollenwechsel, sondern eher danach, dass sie schon immer eher männlich war.

Zudem scheint sich diese Tradition nicht gehalten zu haben, obwohl das Patriarchat ja nach wie vor den Männern genug Vorteile bietet.

The tradition of sworn virgins was never that common in Albania, and the practice is slowly dying out. Today there are so many more opportunities for young women that most of them here have not even heard of the practice, let alone considered it an option.

Die Praxis scheint also nicht sehr attraktiv gewesen zu sein. Sofern nicht mehr der Druck enormer gesellschaftlicher Zustände bestand scheint dieser Weg die männlichen Vorteile zu erlangen nicht mehr attraktiv für die allermeisten Frauen gewesen zu sein.

Abgrenzung sozialer und biologischer Einflüsse und ihrer Schwierigkeiten

Der Mensch ist ein Produkt der Natur und der Umwelt. Die Anlage-Umwelt-Debatte ist insofern schwer zu führen, weil Kultur häufig eine Ausgestaltung der Biologie auf andere Weise ist.  Gerade bei der Forschung in die kulturelle Richtung werden aber gerne mögliche biologische Einflüsse zu früh ausgeschlossen. Dazu kurz etwas:

  • Bei einem Vergleich mit den Eltern wird nicht berücksichtigt, dass die Kinder von diesen nicht nur die Erziehung, sondern auch die Gene haben. Wenn sie also bestimmte gleiche Einstellungen haben, dann kann das daran liegen, dass sie die gleichen Gene haben.
  • Es wird häufig angenommen, dass die Beeinflussung nur in eine Richtung verläuft. Tatsächlich verläuft die Beeinflussung aber in beide Richtungen. Die Eltern/Bezugspersonen reagieren auch auf das (möglicherweise biologisch bedingte) Naturell/den Charakter des Kindes etc. Ein besonders freches Kind wird eben strenger angegangen werden oder die Eltern werden eher resignieren als bei einem Kind, welches von Natur aus brav ist. Bei diesem besteht vielleicht gar kein Anlass es so hart anzugehen („der Junge kommt aus einer kaputten Familie“ „Ja, ein Junge wie er bekommt jede Familie kaputt“)
  • bei der Peer-Group kann hinzukommen, dass sie sich eine PeerGroup suchen, die ihren Vorlieben entsprechen, die wieder biologische Ursprünge haben können
  • Abweichungen in Kulturen bedeuten nicht, dass diese auf Kultur zurückzuführen sind. Es kann einfach ein anderes biologisches Muster aktiviert sein. Beispielsweise ist der Umstand, dass in Kulturen mit hoher Vaterunsicherheit nicht die Väter, sondern die Onkel mütterlicherseits die Kinder unterstützen nach evolutionärer Spieletheorie leicht nachzuvollziehen und entspricht der biologischen Interessenlage, die eben bei hoher Vaterunsicherheit eine hohe Investition des Partners der Frau in die Kinder uninteressant macht. Biologische Programme müssen nicht schlicht sein, sie können natürlich auch graduell ausgestaltet sein
  • Männer und Frauen sind nach den biologischen Theorien nicht essentialistisch verschieden, sondern nur im Schnitt. Abweichende Verhaltensweisen bestimmter Frauen und Männer sprechen damit per se  nicht gegen biologische Begründungen.