Ich bin bei einer Episode des Podcasts „Sicherheitshalber“ auf das Böckenförde Diktum gestoßen und dachte, dass könnte auch für eine Diskussion interessant sein:
Aus der Wikipedia:
Das Böckenförde-Diktum (auch Böckenförde-Theorem, Böckenförde-Doktrin oder Böckenförde-Dilemma) wurde von dem Staats- und Verwaltungsrechtler und Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde in dem Aufsatz „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ formuliert. Der zentrale Satz des Diktums – „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“[1] – wurde zuerst in einem Seminarbeitrag aus dem Jahr 1964 verwendet.[2][3] Er beschreibt das Problem säkularisierter Staaten, soziales Kapital zu erschaffen, und wird sowohl von Verfassungsrechtlern, Religionswissenschaftlern als auch von Theologen kontrovers diskutiert.
Und weiter:
In seinem Aufsatz „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ beschreibt Böckenförde die Entwicklung der europäischen Staaten als einen Dualismus von Verfassungsgeschichte und Säkularisierung. Er betont den „allmählichen“ Verlauf der Verweltlichung, die ein historischer Prozess gewesen sei, „lange Zeit lagen alte und neue Bauelemente dicht neben- und beieinander“.[6]
Böckenförde unterscheidet drei Phasen, in denen sich dieser Prozess vollzogen hatte: Den Investiturstreit, das Zeitalter der Glaubenskämpfe und die Französische Revolution.
Die Trennung von „geistlich“ und „weltlich“ gehe in ihrer frühesten Form auf den Investiturstreit während des 11./12. Jahrhunderts zurück. In dieser Zeit sei „die politische Ordnung als solche aus der sakralen und sakramentalen Sphäre entlassen“ worden. Seitdem bedürfe die Politik einer weltlichen, das heißt einer naturrechtlichen Begründung.[7]
Nach der Glaubensspaltung im 16./17. Jahrhundert habe sich die Frage gestellt, wie „ein Miteinanderleben der verschiedenen Konfessionen in einer gemeinsamen politischen Ordnung möglich sei“.[8] Die Unterscheidung in „geistlich“ und „weltlich“ sei zwar zuerst von den Päpsten verwendet worden. Sie habe dann aber in der Folge zu einer Suprematie der Politik gegenüber der Kirche geführt.[8] Die französischen Juristen der „Politiques“ hätten zwischen einem weltlichen Herrscher als neutraler Instanz und den streitenden Glaubensparteien unterschieden. Hierdurch sei die Religion „kein notwendiger Bestandteil der politischen Ordnung mehr“ gewesen. Umgekehrt war die Religion seitdem nur noch de facto garantiert, nicht mehr de jure.[8]
In der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, schließlich, sei der Mensch nur noch als individualisiertes und profanes Wesen gedacht worden. Der Staat habe sich von der Religion emanzipiert, während diese „in den Bereich der Gesellschaft verwiesen“ und zu einer privaten Angelegenheit geworden sei, ohne Auswirkung auf die Stellung als Staatsbürger. Die Religionsfreiheit umfasst sowohl die positive Freiheit zur Ausübung der Religion als auch die negative Freiheit von der Religion. Das Christentum sei seitdem nur noch ein „Dekor für höchst weltliche Geschäfte“ gewesen.[9]
Hiervon ausgehend, wirft der Verfasser die Frage auf, worauf der säkulare Staat seitdem gegründet sei, „worin findet er die ihn tragende, homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte der Freiheit, deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft der Religion für ihn nicht mehr essentiell ist und sein kann?“[10] Im 19. Jahrhundert sei versucht worden, die Nation, später, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, auch „Werte“ insoweit fruchtbar zu machen. Beides sei gescheitert. Einen Weg „über die Schwelle von 1789 zurück“ gebe es aber auch nicht.[10] Deshalb gelangt Böckenförde zu dem Schluss:
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
– Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ In: Recht, Staat, Freiheit. 2006, S. 112 f. (Hervorhebung im Original)
So wie ich es verstehe:
Durch was kann ein Staat, der die Freiheit des Einzelnen als Element hat und sich nicht mehr auf eine religiöse Wertebasis oder sonstige Gemeinsamkeiten gemeinsamer Werte stützen kann, noch das notwendige Gemeinschaftsgefühl aufbauen, durch das die Leute überhaupt bereit sind, sich für den Staat einzusetzen und ihn zu schützen?
Natürlich gibt es zu einem gewissen Teil noch ein Gemeinschaftsgefühl durch gemeinsame Sprache, Kulturen, geschichtliche Hintergründe etc. Und man könnte entsprechend auf das Grundgesetz oder die Menschenrechte verweisen, die eine Gemeinsamkeit der westlichen Welt darstellen könnten. Aber natürlich kann man nicht mehr sagen „Ich bin euer von Gott gewollter Herrscher und wer gegen mich ist ist gegen Gott und kommt in die Hölle“ (um mal etwas weiter zurück zu gehen).
Konservative Parteien betonen gerne noch Elemente der Religion und der passenden Feste wie Weihnachten etc. Ein sehr intersektional linker Politiker wird eher zum Zuckerfest etc gratulieren als zu Weihnachten. „Homogenität der Gesellschaft“ erzeugt in der Tat ein gewisses Gemeinsamkeitsgefühl, nimmt aber auch weiter ab.
Wäre natürlich die Frage, wie viel „Substanz“ man tatsächlich braucht. Klar, wenn man will, dass die Bürger in einen Krieg für einen ziehen, dann ist ein gewisser Patriotismus sicherlich hilfreich. Zumal dann auch eher Beschämungen greifen, dass man sich nicht für sein Land einsetzen will, mit denen dann die Bereitschaft zu einem Einsatz gehoben wird. Es ist sicherlich kein Wunder, dass dieses Diktum in einem Militär-Podcast besprochen worden ist.
Aber die Frage ist, ob es darüber hinaus etwas ist, was so viel Vorteile bringt.