Evolution und die Frage, ob man von einer Richtung oder einem Ziel sprechen kann

DJadmoros schreibt:

Sie verdeckt die interessantere Frage, warum Evolution ein gerichtetes Phänomen mit eigenem Zeitpfeil ist und ein telos zu haben scheint.

Und in einem weiteren Kommentar:

Die Gerichtetheit der Evolution würde ich ebenfalls als trivial wahr betrachten, da sie am wachsenden Komplexitätsgrad der Organismen (allgemeiner: der Organisation von Materie) ablesbar ist. Das muss natürlich kein Telos implizieren, insofern finde ich den Pareidolie-Verdacht berechtigt.

anorak erwiderte:

„Die Gerichtetheit der Evolution würde ich ebenfalls als trivial wahr betrachten, da sie am wachsenden Komplexitätsgrad der Organismen (allgemeiner: der Organisation von Materie) ablesbar ist“

Es gibt auch Evolution zum Einfachen. Die vermeintliche Gerichtetheit und Zielorientierung ist eine optische Täuschung.

Richtig ist vielmehr: Evolution geschieht einfach weil die Gesetze der Natur sie zulassen. Sie hat kein Ziel, keine „Entwicklung zum höheren“ oder etwas in der Art.

Und djardmoros schreibt in einen anderen Kommentar:

Die Evolution ist nicht gerichtet und hat kein Ziel.

Letzteres habe ich nicht behauptet (zumindest müsste man hier aufwendig philosophisch argumentieren), ersteres ist dagegen offensichtlich, weil sich für die Komplexitätssteigerung vom Einzeller bis zum Homo Sapiens klare Kriterien angeben lassen: (a) eine zunehmende funktionale Differenzierung und (b) eine zunehmende Zahl hierarchischer Steuerungsebenen, damit verbunden (c) eine zunehmend differenzierte Umweltrepräsentation und (d) eine wachsende Verhaltensautonomie.

Die Hominiden des Quartär sind komplexer als die Reptilien des Perm, weil sie mindestens nach den Kriterien (c) und (d) höhere Kapazitäten aufweisen.

und in einem weiteren Kommentar:

telos meint i. d. R., und in unserem Kontext, ein (ultimates) Endziel, kein (proximates) Nahziel. Weshalb das hier

Das im Nachhinein als von Anfang an angelegt zu interpretieren ist nicht gerechtfertigt. Dass der Homo sapiens das „Ziel“ gewesen sei, sagt nur der Homo sapiens.

auch nicht meine Behauptung ist. Vom Ziel des Universums wissen wir nichts, es sei denn, wir sind religiös, dann fällt uns dazu was ein.

»Wie gesagt ist die zwischenzeitliche Ausbreitung nicht mit einer Entwicklung zum „höheren“ gleichbedeutend, und kann durchaus auch Vereinfachungen einschließen.«

Die Kriterien für »höher« habe ich aufgezählt, und die in diesem Sinne (bis auf weiteres) »höchste« Spezies ist die mit der größten Verbreitung über nahezu alle ökologische Nischen des Planeten.

»Du interpretierst vom Ende her und bezeichnest den beobachtbaren, möglicherweise zufälligen Trend, nachträglich als Richtung.«

Das halte ich für empirisch gerechtfertigt und wäre empirisch zu widerlegen, zum Beispiel, indem es auf irgendeinem Exoplaneten ganz anders läuft.

Ich verstehe immer noch nicht ganz, was er da eigentlich meint, aber vielleicht stellt es sich ja in der Diskussion heraus.

Die Frage, ob Evolution ein Ziel bzw eine Richtung haben kann,  etwa eine Richtung zu mehr Höherentwicklung, ist leicht zu beantworten:

Nein, ein Ziel kann nicht bestehen. Den Evolution erfolgt durch (zufällige) Mutation und Selektion und ein Ziel setzt eine Art Planung von jemanden voraus oder eine zwangsläufige Kontinuität.

Evolution kann deswegen als Vorgang auch keine wirkliche Richtung haben, da stets eine Veränderung einschlagen kann, die einen anderen Weg vorteilhafter macht.

Einzelne Evolutionäre Vorgänge können natürlich aber den Anschein einer gewissen Richtung haben, etwa weil ein konstanter Selektionsdruck über eine gewisse Zeit vorliegt, der bestimmte Lebewesen immer mehr dazu bringt bestimmte Eigenschaften zu verbessern.

Natürlich war das auch schon mal Thema hier:

Richtig daran ist natürlich erst einmal, dass die Evolution kein Ziel hat. Da sie auf Mutation und Selektion beruht ist sie ein endloser Prozess, der kein Endstadium erreichen kann. Es gibt kein „perfektes Lebewesen“ und auch kein „unfertiges Lebewesen“. Deutlich wird dies auch an der Red Queen Theory, die die Konkrurrenz der Lebewesen untereinander betrachtet. Da Lebewesen miteinander agieren und miteinander konkurrieren müssen sie sich zumindest untereinander anpassen und ein „perfektes Lebewesen“ wäre nur bis zur nächsten positiven Mutation seines Feindes oder Konkurrenten perfekt.

Das bedeutet aber nicht, dass Evolution nicht ein bestimmter Prozess in eine Richtung sein kann, der sich (kurzzeitig) anhand bestimmter Sachzwänge entwickelt. Den neben der zufälligen Mutation besteht Evolution eben auch aus Selektion. Und es lassen sich gewisse Kriterien für eine Selektion aufstellen, wenn sich auch daraus die tatsächliche, konkrete Evolution nicht vorhersagen läßt.

Ein Beispiel wäre das Erreichen eines flugfähigen Vogels auf einer Insel ohne natürliche Feinde. Durch das Wegfallen der Fressfeinde sind bestimmte Selektionsfaktoren, die bisher auf den Vogel einwirkten, weggefallen. Es spricht damit vieles dafür, dass sich bei diesem Vogel Systeme, die gerade unter diesen Selektionsfaktoren entstanden sind, wegfallen werden und andere Faktoren, die bisher durch diese Selektion unterdrückt werden, nunmehr aufleben. Das Fliegen erlaubt einem Vogel beispielsweise die schnelle Flucht vor einem Fressfeind. Im Gegenzug verbietet ihm das Fliegen die Bildung vieler Nahrungsmittelreserven, die Bildung stabiler, aber schwerer Knochen etc. Zudem bedeutet Fliegen, dass man sich kostenintensive Flugmuskeln zulegen muss und diese unterhalten muss, was selbst bei Nichtnutzung zum Fliegen erhebliche Verursacht. Der allgemeine Druck, einen möglichst kostensparenden Körper zu haben, kann sich daher ohne natürliche Feinde wesentlich besser entwickeln. Natürlich kann auch die Nahrungssuche ein Fliegen erfordern, etwa bei steilen Küsten und Fischfang bei ansonsten bestehender Nahrungsknappheit.Natürlich kann die Flugfähigkeit auch im Rahmen der sexuellen Selektion eine richtige Rolle spielen und deswegen erhalten bleiben. Dennoch kann man beobachten, dass Vögel unter diesen Umständen sehr häufig ihre Flugfähigkeit einbüssen werden, dicker und stabiler werden, ihre Fluchtinstinkte verlieren.

Das bekannteste Beispiel ist der Dodo. Wie an der allseits bekannten Geschichte des Dodos deutlich wird ist dieser Verlust der Flugfähigkeit natürlich kein Ziel im Sinne eines Plans der Evolution gewesen. Aber weil Evolution eben planlos verläuft und daher überlegungen wie „Irgendwann wird einmal ein Raubtier auf die Insel kommen, es wäre besser für die Gattung, wenn auch nicht unbedingt für das jetzt lebende Einzelwesen, sich die Flugfähigkeit und die Fluchtinstinkte zu erhalten“ innerhalb des Prozesses natürlich nicht stattfinden können, ist es nicht fehlerhaft davon zu sprechen, dass ein selektiver, evolutionärer Druck weggefallen ist. Ebenso kann man natürlich auch den Menschen betrachten. Über den weitaus größten Teil der Menschheitsgeschichte (also zumindest etwa 4,5 Millionen Jahre) bestand ein höherer Selektionsdruck für Menschenfrauen als für Menschenmänner sich einen Partner zu suchen, der bereit war, Teile der Kosten einer Schwangerschaft zu übernehmen.

Dieser Selektionsdruck macht sich auch beim Menschen bemerkbar, die deswegen seltener als der Mann reinen Sex ohne gefühlsmäßige Bindung will und formt im Gegenzug aufgrund der Ausgestaltung bei der Frau im Wege der sexuellen Selektion auch wieder die Partnerwahl des Mannes. Das Ergebnis dieses Prozesses und des damit einhergehenden Red Queen Races betrachtet insbesondere die Sexual Strategies Theory. Inzwischen ist der diesbezügliche Selektionsdruck weggefallen. Veränderungen ergeben sich insbesondere daraus, dass Verhütung eine Abkoppelung von Sex und Fortpflanzung ermöglicht hat und zudem das hochentwickelte Sozialsystem, Unterhaltsgesetze, die verbesserte Möglichkeit einer Drittbetreuung etc in modernene Staaten Frauen ermöglichen, die Kosten einer Schwangerschaft an den Mann auch gegen dessen Willen oder an die Gemeinschaft weiterzureichen. Das Wegfallen des Selektionsdruckes in diese Richtung bedeutet aber nicht, dass die durch diesen Selektionsdruck entstandenen biologischen Grundlagen wegfallen.

Dabei sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen:

a) Zeit

Der Wegfall des Selektionsdruck ist noch nicht lange her. Effektive Verhütung ist erst mit der industriellen Herstellung von Verhütungsmitteln möglich, Kondome etwa seit ca. 1930, die Pille etwas später. Erst ca. etwa den 70ern, also seit nunmehr gerade einmal 3 Generationen, ist effektive Verhütung möglich

b) Sexuelle Selektion

Sexuelle Selektion funktioniert über biologisch verankerte Partnerwahlkriterien. Diese stabilisieren das System, da sie zu einem Selbstöläuferprozess führen können. Wenn Männer Frauen mit häufig wechselnden Sexualpartnern aufgrund dieser Kriterien als weniger attraktiv für eine Langzeitbindung ansehen, dann bleibt es auch bei Wegfallen des Selektionsdrucks hierfür vorteilhaft, entsprechende Frauen nicht zu wählen bzw. Männer, die sich mit entsprechenden Frauen für eine Langzeitbindung einlassen nicht zu wählen, weil aufgrund der abgespeicherten Partnerwahlkriterien Töchter bzw. Söhne, die nach diesen Kriterien entstehen, schlechtere Chancen auf dem Partnermarkt haben. Die Söhne würden von den Frauen abgewertet werden, weil sie sich mit entsprechenden Frauen auf Langzeitbindungen einlassen, die Töchter für Langzeitbindungen uninteressanter werden. Diese Nachteile stellen also ebenfalls einen Selektionsdruck dar, der das System stabilisieren kann.

c) Fehlende Selektion in eine abweichende Richtung

Die Kriterien, die sich nach dem bisherigen Selektionsdruck aufgebaut haben, verschwinden nur dann, wenn der wegfallende Selektionsdruck zu Veränderungen im Genpool führt. Bei dem Dodo beispielsweise konnte ein Vogel, der schwächere Flugmuskeln hat, genauso gut überleben. Wenn Dodos aufgrund eines reichhaltigen Nahrungsangebots und weniger Fluchtnotwendigkeit insgesamt fetter wurden, flogen vielleicht auch die Dodos mit besseren Muskeln weit aus weniger. Insgesamt wirkten sich daher solche Nachteile nicht aus, hingegen mussten die Vögel mit guter Flugmuskulatur diese nach wie vor unterhalten und starben daher vielleicht in Dürrezeiten eher. Die Gene für schwache Flugmuskeln könnten sich daher gut im Genpool anreichern. Die Frauen, die dank Verhütung folgenlosen Sex mit vielen Partnern haben konnten, bekommen aber nicht mehr Kinder als die Frauen, die das nicht wollten. Denn das verhindert die Verhütung ja gerade. Sie bekommen vielleicht sogar deswegen später Kinder als Frauen, die früh eine feste Partnerschaft eingehen und konzentrieren sich eher auf Karriere etc. Eine gentische Veränderung stellt sich nicht ein, weil ein bestimmtes Verhalten praktiziert wird. Das wäre Lamarckismus. Sie würde sich hier einstellen, wenn Frauen, die mehr Sexualpartner haben als der Schnitt mehr Kinder haben würden als Frauen, die weniger Sexualpartner haben als der Schnitt.

Der Artikel ging um ein etwas anderes Thema, passt aber hier auch im wesentlichen. Wie dort schon dargelegt gibt es verschiedene Faktoren, die den Eindruck eines „Ziel“ bzw einer Richtung erwecken.

Ich hatte dort den Dodo angeführt, bei dem mangels Feinde auf der Insel zu erwarten war, dass er die Flügfähigkeit und die Ängstlichkeit verliert, wenn nur genug Zeit auf der Insel ohne Feinde vergeht. Natürlich hätte ein Fressfeind, der nicht so aggressiv wie der Mensch ist und der vielleicht in einem früheren Zeitraum, als der Dodo noch nicht so stark auf das Leben ohne Feinde eingestellt war den Vorgang wieder umgedreht.

Ein anderes Beispiel wäre der Gepard und das Nashorn oder der männliche Gorilla.

Der Gepard ist auf Schnelligkeit ausgelegt, wenn er einmal eine gewisse Schnelligkeit erreicht hat ist es leichter noch etwas schneller zu werden als zB andere Fähigkeiten zu erlernen, weil eben auch nur seine Beute etwas schneller geworden ist und er sich in einem Red Queen Race mit Gazellen befindet.

Ebenso wird bei einem Nashorn eher eine Selektion auf noch mehr Masse und dickere Haut auftreten, weil er eh schon ein Panzer ist, und etwas mehr Panzer leichter evolvieren kann als sagen wir die Fähigkeit sich zu verstecken (die vielleicht für jüngere Nashörner interessant ist, aber das ist eine andere Sache)

Der Gorilla befindet sich ebenfalls in einem Red Queen Race mit anderen Gorillas, die er schlagen muss um sich fortzupflanzen. Aber auch hier gilt, dass irgendwann Gorillas schlicht nicht mehr sehr viel stärker werden, da dies zu viel Aufwand erfordert.

Beim Menschen war der Weg auch nicht ganz so einfach:

Wie man dort sieht hat man auch hier keine klare Linie, sondern diverse Seitenlinien, die schließlich (teilweise) weggefallen sind (teilweise in dem Sinne, dass wir wohl gerade in Europa noch zB neanderthaler DNA in uns haben).

Wir sind auch gerade an einem interessanten Punkt angelangt, in dem die Versorgungslage des Menschen in vielen Teilen der Welt so gut ist, dass die Anzahl der Nachkommen nicht mehr unbedingt von Intelligenz oder Status abhängt. Das intelligente Akademikerehepaar wird vielleicht, da es viel Zeit in den Beruf steckt, weniger Kinder bekommen, als der wegen schwierigen Charakter und geringer Qualifikation Dauerarbeitslose, der mit 5 Partnerinnen jeweils ein Kind hat, und dem es egal ist, weil er ohnehin nicht mehr in der Lage ist Kindesunterhalt zu zahlen und es auf ein weiteres Kind schlicht nicht ankommt. Man wird sehen ob das die „Richtung“ unterbricht.

Natürlich könnte es viele weitere Punkte geben, die zu einer Veränderung der „evolutionären Richtung“ des Menschen führen. Von Kriegen bis hin zu Meteoriteneinschlägen, die ja schon einmal die damalige „Richtung“ von riesigen Dinosaurieren hin zu Säugetieren verändert haben.

Ganz zu schweigen davon, dass es der Menschheit gelingt zB eine Kolonie auf dem Mars oder dem Mond zu unterhalten und wachsen zu lassen, hier sind ganz andere Selektionen zu erwarten, insbesondere Anpassungen an eine geringere Gravitation.

Natürlich auch spannend: Was wird, wenn wir unser Gehirn so weit verstehen, dass wir es umbauen können?
Etwa gezielt bestimmte Bereiche vergrößern und uns ein paar weitere Einsteins erschaffen etc.