Leser PG13 wies in den Kommentaren auf einen interessanten Artikel von Hannah Wettig, früher bei der Mädchenmannschaft aktiv, zu den intersektionalen Theorien hin
Es gibt viele Namen: „Identitätspolitik“, „intersektionaler Feminismus“, „Critical Whiteness“, „Woke“ – und abwertend „Cancel Culture“ oder „Islam-Linke“. Davon war viel in den vergangenen Wochen in den Medien zu lesen. Die Begriffe werden in den Medien mehr oder weniger synonym verwendet. Das sind sie zwar nicht, aber auch ich werde das erst einmal tun und später differenzieren.
Als Grüne sind wir schon etwas früher mit dem Phänomen konfrontiert worden, zumindest in einigen Landesverbänden. In Berlin stellten etwa ältere Semester bei der letzten Frauenvollversammlung erstaunt fest, dass sie sich dem intersektionalen Feminismus verschreiben sollten und fragten, was das denn überhaupt sei.
Dass eine neue Ideologie so wirkmächtig auftritt und unbedingtes Mitmachen einfordert, während die Masse der Bevölkerung und sogar ein Großteil der politisch Tätigen noch gar nichts davon gehört hat, gehört zu den Besonderheiten dieser Strömung. Das führt zu den meist diskutierten Problemen dieser Entwicklung: Immer wieder werden Menschen aufs Schärfste attackiert für etwas, was sie gesagt haben, haben aber nicht den blassesten Schimmer, was daran eigentlich schlimm war.
Das ist in der Tat sicherlich für viele ein plötzliches Problem, weil die Basis, gerade die Älteren, von den Theorien gar nichts mitbekommen haben, es gar nicht so einfach ist, dass plötzlich zu verstehen, um was es eigentlich geht, aber für Fehler plötzlich aufs schärfste angegriffen zu werden.
Ich war damit zum ersten Mal vor neun Jahren konfrontiert. Damals schrieb ich für den feministischen Blog Mädchenmannschaft. Zur Feier des fünfjährigen Jubiläums waren alle Berliner Mitstreiterinnen aufgefordert, Workshops anzubieten. Ich bot an, etwas über Frauen in der ägyptischen Revolution zu machen. Das wurde begrüßt. Als ich aber zu der Veranstaltung kam, spürte ich Abweisung: Andere Bloggerinnen schnitten mich. Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht und meinen Workshop durchgeführt. Keine der anderen Bloggerinnen nahm daran teil. Vier bis fünf Tage später nahm mich eine Bloggerin, die nicht in Berlin wohnte, also nicht auf der Veranstaltung gewesen war, in Kopie auf den internen Verteiler. Sie schrieb: Was ihr mit Hannah macht, ist Stalinismus. Ihr habt sie nicht einmal informiert, geschweige denn angehört zu den Vorwürfen. Deshalb leite ich das jetzt an sie weiter.
Ich las eine ellenlange hitzige Diskussion der letzten Tage. Daraus erfuhr ich, dass ich auf der Website in einem großen Artikel angeprangert wurde. Ich sollte mich öffentlich entschuldigen und meine weiße Position reflektieren. Mein Haupt-Vergehen: Ich hatte als weiß Positionierte über People of Color gesprochen. Sprich: ich hatte genau das getan, was ich angekündigt hatte und was sie begrüßt hatten: über Frauen in der ägyptischen Revolution berichtet.
Außerdem wurden mir noch ein paar andere Kleinigkeiten vorgeworfen, die auf Hören-Sagen beruhten – wie gesagt: Keine war bei dem Workshop gewesen. Meine Verteidigung, die Diskussion im Workshop sei ganz anders verlaufen, als sie es behaupteten, wurde beantwortet mit: „Du willst Dich also nicht kritisch mit Deinem Verhalten auseinandersetzen.“
In der Folge verließ die Hälfte der Bloggerinnen das Kollektiv, weil sie den Umgang mit mir einfach nur verrückt fanden. Die taz und die Jungle World berichteten darüber. Sie interpretierten das Ganze als Richtungsstreit. Ich hatte aber etwas anderes erlebt. Es ging nicht um unterschiedliche politische Positionen. Wir hatten gar keine politische Debatte geführt. Das Ganze war ein kafkaesker Prozess. Es ging um Macht, nicht um Inhalte.
Ich hatte diese Streitigkeiten in der Mädchenmannschaft schon mal aufgegriffen:
Die „Gegensicht“ der intersektionalen Feministinnen zwar nicht genau zu ihrem Vortrag aber zu Vorfällen aus dem Jubiläum findet sich hier und ich wollte sie eigentlich schon immer mal besprechen. Ich zitiere aber einfach mal aus dem Text:
Auf dem Podium saßen Julia Brilling für Hollaback!BLN, Dr. Daniele G. Daude für Bühnenwatch und Sandra Steinitz für Sl*twalk Berlin (im Folgenden benannt mit SW bzw. SW Berlin). Moderiert werden sollte das Podium von Anna-Sarah von der Mädchenmannschaft (MM).
Nach der Vorstellung der Initiativen durch die Podiumsteilnehmerinnen äußerten Dr. Daniele G. Daude und Julia Brilling mehrfach Kritik am Umgang der SW-Organisator_innen mit den aktuellen Blackface- und Niqab-Vorfällen auf dem SW Berlin 2012, bezogen sich dabei auch konkret auf die Debatte bei Facebook, die am Tag der MM-Veranstaltung ein besonderes Ausmaß an Zurschaustellung weißer Überlegenheitsgesten und Rassismusverharmlosung erreichte (eine entsprechende Contentwarnung gilt für den verlinkten Facebook-Thread). Kritik wurde von beiden auch am Umgang der SW-Orga mit den Kritiken aus dem vergangenen Jahr geäußert, es ging z.B. um die Problematik der Aneignung des Wortes ‚Sl*t‘ (‚Schl*mp*‘), weiterhin um produzierte Ausschlüsse und die Ignoranz diesen gegenüber.
Sandra Steinitz verstrickte sich in Rechtfertigungsversuche und derailte die von Dr. Daniele G. Daude und Julia Brilling geäußerte Kritik, Unmut von Teilnehmer_innen of Color und von wenigen weiß positionierten Teilnehmer_innen aus dem Publikum folgte, sowie weiterhin Kritik von Julia Brilling und Dr. Daniele G. Daude an konkreten Aussagen von Sandra Steinitz.
Im Publikum gaben sich vier bis fünf weiß Positionierte als Organisator_innen von SW Berlin zu erkennen und skandalisierten den Diskussionsverlauf, ebenfalls mit Rechtfertigungen, Abwehrhaltung und Derailing, zum Teil mit Umkehrungsrhetoriken. Julia Brilling und Dr. Daniele G. Daude reagierten, ebenso Teilnehmer_innen of Color und wenige weiß positionierte Teilnehmer_innen.
Anna-Sarah lenkte die Debatte auf ein neues Thema, doch die anwesenden SW-Organisator_innen kommentierten weiter das zuvor Gesagte und unterbrachen mehrfach. Sabine stand auf und wies eine der Organisator_innen zurecht.
Die Organisator_innen von SW Berlin äußerten sich wiederholt rassistisch und reproduzierten weiße Dominanz und Abwehr. Einige Teilnehmer_innen of Color verließen den Raum.
Nach einem Signal von und Verständigung mit Sabine stoppte Magda den Verlauf der Podiumsdiskussion mit dem Verweis, dass gerade Women of Color den Raum verlassen haben und ein Weitermachen keinen Sinn ergäbe. Ein_e Teilnehmer_in kritisierte, dass Betroffene den Raum verlassen müssen und nicht die Sl*twalk-Organisator_innen. Nach der Beendigung der Podiumsdiskussion verließ die SW-Orga den Raum besonders sicht- und hörbar, indem sie sich zudem gegenseitig Mitleid aussprachen für die „schlimme Situation“.
Hintergrund waren ua (spätere?) Femen-Aktivistinnen, unter anderem Zana Ramadami, die schwarz angemalt am Slutwalk teilgenommen hatten:
Die intersektionalen Feministinnen fanden das natürlich fürchterlich, die restlichen Feministinnen anscheinend nicht so bewegend, insbesondere wollten sie über ganz andere Sachen reden und haben gar nicht verstanden, warum sich darüber so aufgeregt wird. Sie wollten darüber reden, wie man das Patriarchat besiegt, die intersektionalen Feministinnen wollten ihnen vorhalten, warum ihr Aktivismus „Nicht gut genug“ ist und damit falsch. Die damaligen Feministinnen dachten wahrscheinlich „Warum greifen die uns so an, wir wollen doch die Welt besser machen und sollten alle zusammen halten“ oder etwas in der Art. Aber das intersektionale Programm hätte Demutsgesten erfordert, Einsicht falsch gehandelt zu haben, Distanzierung und die Mitteilung, dass man aus den Fehlern lehren wird und in Zukunft solche Sachen unterbinden wird und auf PoCs hören wird, wenn diese Kritik üben. Dann hätte man den PoCs die Bühne geben müssen, damit sie sagen was richtig ist.
Dazu dienten neue Sprach- und Verhaltensregeln des politisch Korrekten. Da wurden Wörter gebraucht, die ich überhaupt nicht kannte. Und das, obwohl ich immer politisch aktiv war und das genau in diesen Subkulturen. Immerhin war ich Teil dieses feministischen Kollektivs gewesen, hatte mich aber in den Monaten zuvor nicht an Diskussion beteiligt, weil ich in den arabischen Revolutionen unterwegs gewesen war. In nur wenigen Monaten hatte eine Clique das Kollektiv übernommen, die nun einforderte, dass wir uns an neue Regeln hielten und die bestimmten, wie Feminismus zu sein habe.
Das man sich dort so einfach hat vertreiben lassen finde ich immer noch faszinierend. Immerhin war die Mädchenmannschaft ja das „Kind“ der älteren Feministinnen und sie hätten auch klarstellen können, dass die intersektionalen Feministinnen zu gehen haben und ihre eigene Seite aufmachen können, wenn ihnen das nicht passt.
Aber meine Vermutung ist, dass die andere Seite einfach viel zu aggressiv aufgetreten ist und man dem wenig entgegen zu setzen hatte und die intersektionalen Feministinnen auch gar nicht eingesehen hätten, dass man sie rauswirft.
Letztendlich hat das gleichzeitig dem Blog Mädchenmannschaft nachhaltig geschadet, dort erscheinen quasi keine interessanten Artikel mehr und der Blog dürfte – vermutlich zu Gunsten des Missy Magazins – erheblich an Leserschaft verloren haben.
Ich begann mich im Freundeskreis umzuhören, ob jemand schon mal etwas von dieser neuen Strömung gehört hatte. Und hörte viele dramatische Geschichten. Damals handelte es sich aber eindeutig noch um eine Strömung in kleinen linken Subkulturen. Linke Subkulturen hatten in ihrer Geschichte häufig Sprachregeln, die man nicht unbedingt von außen nachvollziehen konnte. Sie hatten auch häufig einen rigiden Umgang mit Abweichlern. Trotzdem fiel mir schon damals auf, dass es ein paar bemerkenswerte Unterschiede zu vorherigen Praxen gab.
Die Umstellung damals war auch aus meiner Sicht deutlich, aber immerhin hat sie indirekt auch diesen Blog ins Leben gerufen, denn erst mit dem Auftreten der intersektionalen Theorien ging die Diskussionskultur bei der Mädchenmannschaft vollends den Bach runter. Vorher war da – wenn auch eingeschränkt – durchaus noch kritisches erlaubt, aber mit dem Erstarken der intersektionalen Theorien wurde immer mehr geblockt bis man quasi keine Möglichkeit zum diskutieren mehr hatte.
Es findet gar keine Debatte mehr statt
Auch wir Grünen kennen aus unserer Geschichte denunziatorische Attacken auf den politischen Gegner und auch auf die eigenen Mitstreiter. Die erste Bundestagsfraktion der Grünen soll sich geradezu zerfleischt haben in Richtungskämpfen. Junge Menschen, die die Welt verändern wollen, gehen zuweilen gnadenlos gegen die Altvorderen vor, die das nicht wollen. Wir können das falsch finden. Aber es ist nun mal so und es war schon immer so. Aber hier ist etwas anders. Darum will ich zunächst auf die Praxis eingehen – und dann erst auf die Probleme mit der Theorie.
Es findet gar keine Debatte mehr statt. Es wird mit größter Vehemenz angegriffen: Die Attacke wird oft gegen etwas Symbolisches geführt. Es geht um Wörter, aber auch um Kleidung, Haarstil, Essen, Karnevalskostüme, Dreadlocks, das Zubereiten von exotischen Speisen durch Weiße.
In der Tat ist es eines der Probleme der intersektionalen Theorien, dass nicht mehr diskutiert wird. Das ist gleichzeitig seine Stärke. Denn sein Auftreten als dogmatische und fanatische Religion, die alle Ketzer angreift erlaubt eben nur ein Dafür oder ein Dagegen sein, und wer dagegen ist, der fliegt raus.
Wer damit in solchen Gefilden überleben will, der muss sich anpassen – mit Gegenwehr kommt er nicht sehr weit, wenn erst einmal diese Theorien genug Fuß gefasst haben. Er wird als Rassist und Sexist beschimpft werden und jeder, der ihm zur Seite steht gleich mit. Die Angriffe sind dabei in der Tat oft an Kleinigkeiten aufgehangen, wenn man es nicht aus dogmatischer Sicht sieht, es gibt dort eben kein Leben und Leben lassen, wer das zulässt ist ebenfalls Feind.
Ich habe große Sympathien für rebellierende junge Menschen. Darum habe ich in den vergangenen Jahren, wenn mich solche jungen Menschen bei Vorträgen angriffen, immer das Gespräch mit ihnen gesucht – und sie gebeten, mir zu erklären, warum das Wort, was ich verwendet hatte oder meine Position problematisch beziehungsweise rassistisch seien. Es kamen Phrasen und Glaubenssätze, viele Gefühle oder behauptete Gefühle von irgendjemand anderem, aber keine Argumente, jedenfalls keine, die der logischen Struktur meiner Argumente ähnelten. Ich finde das sehr anstrengend. Ich muss sagen, ich diskutiere lieber mit einem Betonkopf-Marxisten-Leninisten, obwohl ich deren Positionen furchtbar finde, aber sie bringen wenigstens Argumente, die man kontern kann.
Das ist eine nette Zusammenfassung, an der sicherlich einiges Wahres ist, wobei es interessant wäre, was sie selbst als logische Struktur ansieht. Aber in der Tat können viele dort überhaupt nicht diskutieren, weil Glauben keine Diskussion erfordert, ja dadurch sogar erschwert wird. Es ist ein Costly Signal einfach zu glauben und zu akzeptieren und eine gewisse Unlogik macht dieses Signal der Gruppenzugehörigkeit sogar stärker.
Vor ein paar Jahren habe ich für die Emma junge Feministinnen interviewt, die sich gegen diese Art der Identitätspolitik wenden. Sie erzählten mir von ihren Erfahrungen in der Szene. Was ich besonders bemerkenswert fand: Sie erzählten, dass viele jungen Feministinnen vor allem Modemagazine lesen und politische Diskussionen langweilig finden. Darüber musste ich lange nachdenken: Dieselben Frauen, die Professoren wütend wegen angeblich rassistischer Äußerungen niederbrüllen, interessieren sich gar nicht für Politik in ihrer Freizeit? Wie kann das sein?
Das wäre ja durchaus eine interessante Sache: Intersektionale Theorien als Lifestyle, der eine wirkliche Auseinandersetzung gar nicht mehr erforderlich macht. Wer glaubt, der muss nicht diskutieren. Wenn Rassismus und Sexismus allmächtig sind und die Privilegierten die Verantwortung dafür tragen diese Mißstände zu beseitigen, dann kann man als Frau auch Modemagazine lesen. Wenn alles, jeder Bereich, auch politisch ist, dann ist auch die Mode politisch und Modemagazine, etwa mit Unisexartikeln oder woken Modeln sind auch Politik
Dazu müssen wir uns die Herkunft dieser Ideologie anschauen; nicht die originäre Herkunft, sondern den Weg, wie sie in unsere Gesellschaft gekommen ist. Es sind Theorien, die in der Universität gelehrt werden, insbesondere in den Gender Studies. Dort werden sie zuweilen als rigide Glaubenssätze gelehrt. So erzählte mir etwa eine junge Feministin, die an der Humboldt-Universität in Berlin studiert hat, dass sie in ihrem ersten Semester scharf von der Dozentin zurechtgewiesen wurde, als sie auf die Frage, ob man einen Text von Roland Barth lesen dürfe, in dem das Wort „Neger“ vorkam, mit „ja“ geantwortet und das auch begründet hatte. Die Art, wie sie heruntergeputzt wurde, hat auch den anderen im Seminar Eindruck gemacht. Sie erzählte mir: „Du musst Dir vorstellen, da kommen einige aus der deutschen Provinz. Die wissen gar nicht, wie ihnen geschieht. Die kuschen oder gehen in die innere Emigration.“ Es wird also eingebimst und auswendig gelernt, nicht diskutiert. Keineswegs sind die Glaubenssätze, die hier in Deutschland von Vertreterinnen dieser Theorien vorgebracht werden, Ergebnis eines zivilgesellschaftlichen Prozesses, wie behauptet wird. Sondern sie sind von oben oktroyiert. Darum vermisst man auch zuweilen einen Bezug zur Realität.
Es bleibt auch nichts anderes als auswendig zu lernen, eine Diskussion kann allenfalls über Feinheiten aufkommen, aber auch dort ist es schwierig, weil Diskussion gerade Zweifel und Unstimmigkeit bedeutet.
Das spielt auch eine Rolle für unsere Arbeit als Grüne. Ein Beispiel aus einem Kreisverband: Einige junge Mitglieder hatten für das Wahlprogramm ein ganzes Kapitel zu Postkolonialismus geschrieben, unter anderem forderten sie, dass umgehend alle Straßennamen mit kolonialem Bezug umbenannt werden müssten. An sich ist das ein absolut unterstützenswertes Anliegen, was wohl jede grüne Fraktion gern umsetzen würde. Die Fraktion ist also sämtliche Straßennamen des Ortes durchgegangen. Sie hat keinen einzigen mit kolonialem Bezug gefunden. Die Autor*innen des Kapitels kannten auch keinen.
Das ist eine nette Anekdote. Was muss das frustrierend gewesen sein, dass da tatsächlich kein Name vorhanden war, etwas was man einfach vorausgesetzt hatte. Dabei wäre es so ein schön vorzeigbarer Aktivismus gewesen, mit dem man super seine woke Einstellung hätte darlegen können.
Aus solchen Erfahrungen lässt sich der böse Schluss ziehen: Die jungen Leute, die hier so scharfe Attacken führen, sind überhaupt keine rebellierende Jugend, die wütend darüber ist, dass echte Probleme immer noch nicht behoben sind. Es sind vielmehr Streber, die die Lehrsätze ihrer Professorinnen nachplappern. Deshalb wohl kommt es zu teilweise völlig absurd anmutenden Angriffen. Wenn etwa Menschen mit Dreadlocks attackiert werden oder eine grüne Spitzenkandidatin dafür, dass sie als Kind Indianerhäuptling werden wollte, dann liegt das nicht daran, dass die politische Linke in Deutschland keine Themen mehr hat, wie das konservative Feuilleton behauptet. Sondern es liegt mitunter daran, dass eifrige Schüler eine 1 bekommen wollen.
Das ist eine schöne Darstellung der „Call Out Culture“. Ich hatte ja hier schon einmal anhand einer Fußballmetapher dargestellt, dass sich im intersektionalen Feminismus die Spielregeln geändert haben: Wo es vorher auf das Torschiessen angekommen ist gibt es jetzt eben Punkte dafür, dass man darauf hinweist, dass der eigene Mitspieler zu wenig zu schwarzen Mitspielern abspielt, und das unabhängig davon, ob damit eher ein Tor erzielt wird oder nicht.
Es gibt eben Virtue Signalling Punkte für solche Aktionen, und gerade dafür, dass man auf Fehler anderer hinweist.
Hintergründe der Identitätspolitik: Zugrundeliegende Theorien
Aber es gibt auch die, die darüber Macht ausüben. Dafür sind solche Glaubenssätze, vor allem wenn ihre Auslegung willkürlich ist, besonders gut geeignet. Professorinnen können so andere Professorinnen wegbeißen, Politikerinnen andere Politikerinnen usw.
Macht ist über die intersektionalen Theorien in der Tat recht einfach auszuüben. Es gibt bestimmten Personen eben das Recht herablassend von oben die Wahrheit zu verkünden und das mit einer gewissen Unangreifbarkeit. Es ist kein Wunder, dass einige das ausnutzen.
Die Theorien, auf denen das ganze fußt, sind hingegen teilweise gar nicht so dumm. Und es gibt auch viele junge Menschen, die sich ernsthaft damit auseinandersetzen, Bücher lesen und darüber nachdenken. Die sollten wir nicht in einen Topf schmeißen. Solche kenne ich auch. Die sind allerdings in der Lage zu argumentieren und meist finden wir, dass wir gar nicht so weit auseinander liegen wie bei anderen Begrifflichkeiten.
Die Identitätspolitik geht zurück auf TheoretikerInnen der 1980er und 90er Jahre. Dem Philosophen Michel Foucault ging es um die Anerkennung sexueller Identitäten. Er selbst war schwul. Viele postkoloniale AutorInnen zeigten sehr richtig die Marginalisierung anderer Kulturen und Wissensproduktion auf. Dabei gingen sie davon aus, dass Identitäten konstruiert sind – durch Fremd- und Eigenzuschreibungen. Einiges davon kann essentialistisch interpretiert werden, als sei Identität statisch, wie es heute geschieht. Aber nur, wenn man Sätze aus dem Kontext greift, also das Buch nicht gelesen hat.
Die Philosophin Judith Butler wiederum behauptete, dass die Binarität der Geschlechter konstruiert sei, die Unterscheidung von Männern und Frauen durch ständige Performance, also das erlernte Verhalten, aufrechterhalten wird. Als ich das als Studentin gelesen habe, habe ich das nicht so verstanden, dass es keine Geschlechtsunterschiede gibt, sondern dass die Bedeutung, die wir ihnen zumessen, in Frage steht. Inzwischen muss man allerdings sagen, dass Judith Butler ihre eigene Theorie ad absurdum führt, wenn sie die Burka verteidigt.
Das sind die Anfänge, die allerdings im Laufe der Zeit immer unwichtiger wurden und von denen allenfalls noch Grundkonzepte übernommen worden sind. Es ist eine „ideologische Reduzierung“ eingetreten, die den Unterbau weitestgehend uninteressant in der täglichen Praxis macht, weil die Reduzierung weitaus simplerer Regeln bereit stellt, auf die man sich berufen kann.
Zum gleichen Zeitpunkt, aber in Deutschland damals relativ unbeachtet, entwickelte die Juraprofessorin Kimberly Crenshaw den Ansatz der „Critical Race Theory“ und des Intersektionalismus. Die Idee dafür beruht auf einem realen Fall: Bei General Motors klagten schwarze Frauen dagegen, dass sie bei Einstellungen diskriminiert würden. Das Gericht wies die Klage ab. Es argumentierte, dass bei General Motors viele Frauen arbeiten und daher offensichtlich Frauen nicht diskriminiert würden. Auch arbeiteten dort viele Schwarze, also würden auch Schwarze nicht diskriminiert. Tatsächlich waren aber alle Frauen, die dort arbeiteten, weiße, zum Beispiel Sekretärinnen. Die Schwarzen waren alle Männer, die in der Fabrik arbeiteten.
Kimberly Crenshaw befand, dass sich Diskriminierungen also nicht einfach addierten. Von der einfachen Addition von Diskriminierungen geht etwa der Triple-Oppression-Ansatz aus, der damals in der Linken en vogue war. Crenshaw zeigte, dass schwarze Frauen nicht einerseits als Schwarze und andererseits als Frauen diskriminiert würden, sondern dass sie spezifisch als schwarze Frauen diskriminiert wurden.
Der ursprüngliche intersektionale Ansatz wurde ebenfalls stark reduziert. Ging es ursprünglich noch darum, dass man hinterfragen musste, wie bestimmte mögliche Diskriminierungen zusammen spielen gibt es jetzt ein relativ einfaches Schema, in dem in jeder Kategorie bestimmte Gegensatzpaare von Unterdrückt und Privilegiert gebildet werden und verlangt wird, dass in allen Kategorien alle „Diskriminierungen“ unterlassen werden. Das Zusammenspiel dieser ist inzwischen keine große Sache mehr.
Das ist zweifellos eine wichtige Erkenntnis. Und auch die Methode, die daraus hervorging, nämlich in jeder Situation zu schauen, wie sich Mehrfach-Diskriminierungen auswirken, ist in den Sozialwissenschaften absolut sinnvoll. Aber es ist eben nur eine Methode für die Sozialwissenschaften, die Sozialpädagogik oder was auch immer. Es ist keine politische Theorie, keine Gesellschaftsanalyse. Es eignet sich anders als beispielsweise der Marxismus nicht, um daraus politische Gesamtkonzepte abzuleiten. Es wird aber heute so eingesetzt, und das führt zu den vielen Absurditäten, die wir erleben.
Ich habe etwas den Eindruck als hat sie die intersektionalen Theorien noch nicht ganz verstanden. Vermutlich hat sie versucht Grundlagentexte zu lesen, aber die ideologische Reduzierung dieser eben außen vor gelassen.
Die soziale Frage spielt eine untergeordnete Rolle
Warum es keine Gesellschaftsanalyse ist und wenn es als solche eingesetzt wird, in keinster Weise progressiv ist, lässt sich am Beispiel der sozialen Frage am deutlichsten zeigen. Es gilt aber für andere Bereiche genauso. Die soziale Frage spielt in der Identitätspolitik und im Intersektionalismus eine untergeordnete Rolle. Das ist auch nicht verwunderlich, denn dafür sind sie nicht entwickelt worden. Viele Poststrukturalisten, zu denen etwa auch Foucault gehörte, sahen sich als Marxisten oder Post-Marxisten. Aber politische Ökonomie war nicht ihr Untersuchungsgegenstand. Für den Intersektionalismus und die Critical-Whiteness-Theorie gilt, dass sie in den USA entwickelt wurden. Und in den USA tut man sich generell schwer mit der sozialen Frage.
Das ist ja in der Tat auch ein häufiger Vorwurf: Die Klassenfrage spielt in der Tat keine Rolle mehr. Dies eben, weil Klasse etwas wäre, was die anderen Bereiche durchbrechen würde und die ideologische Reduzierung erschweren würde.
Es geht gerade darum, dass man eine einfache Einteilung nach Gruppen hat: Wer Schwarz, weiblich, Homosexuell etc ist, der ist unterdrückt. Deswegen geht es ihm schlechter. Die weiße Unterschicht aufgrund von Klasse aus dieser klaren Welt herausnehmen zu müssen würde vieles erschweren. Das Bild würde an Klarheit verlieren, ohne das man davon einen ideologischen Vorteil hätte. Dazu ist Klasse auch zu wenig greifbar, das weiße Arbeiterkind zu wenig eindeutig einzuordnen. Klasse stört schlicht die so schön aufgebauten Feindbilder.
Das verweist übrigens auf ein weiteres Problem, das ich kurz ansprechen möchte: Viele der Glaubenssätze, die nun kursieren, kommen aus den USA und sind, da es eben keine Debatten gibt, eins zu eins übernommen worden. Sie passen aber gar nicht für unsere Gesellschaft. Ein Beispiel ist etwa der Indianerhäuptling. Es gibt wohl kaum eine Kultur, die natürlich wie die meisten Kulturen absolut konstruiert ist, die in Deutschland so positiv gesehen wird wie die Indianer-Kultur. Ob daher die Verwendung des Wortes in gleicher Weise zu verurteilen ist wie in den USA, darüber müsste erst einmal diskutiert werden.
Auch das ist in der Tat richtig und auch hier schon diskutiert worden. Es wurden amerikanische Probleme übernommen, die hier nur schwer zu übertragen sind. In Deutschland beispielsweise gibt es eine Tradition polnischer und rumänischer Niedriglohnarbeiter, die aber weiß sind. Zudem gibt es auch bereits vieles, was man in Amerika erst fordert, beispielsweise ein funktionierendes Sozialsystem, Krankenkassen, freien Zugang zu Universitäten, weit weniger private Schulen (wenn auch „Problemschulen“) etc.
Manches macht Sinn vor dem Hintergrund der amerikanischen Geschichte, wie der Begriff der Cultural Appropriation, der kulturellen Aneignung, wenn man sich etwa die Geschichte des amerikanischen Blues anschaut. In Deutschland aber hat niemand den Schwarzen den Blues geklaut und damit viel Geld gemacht. Im Gegenteil. Das Spielen von sogenannter „Negermusik“ war Widerstand gegen die Nazis und später auch in der DDR subversiv. Das sollte wohl anders bewertet werden.
In der Tat gab es in Deutschland zwar eine gewisse Kolonialgeschichte, aber eben keine Sklaverei in dem Sinne, wie es sie in Amerika gab. Es gab weitaus eher freiwillige Zuwanderung, etwa aus Italien, Griechenland und der Türkei. Die Rassenkonflikte verlaufen gänzlich anders als in den USA.
Da nun aber diese Theorien wie Gesellschaftsanalysen gehandelt werden, gab es immer wieder Kritik daran, dass die soziale Frage nicht auftaucht. Die Vertreterinnen dieser Theorien führen nun die Kategorie des Klassismus auf. Also es gibt Sexismus, Rassismus, Klassismus, Ableismus und viele andere Diskriminierungen.
Klassismus beschreibt die Diskriminierung von Menschen unterer Schichten. Diese Diskriminierung soll aufgehoben werden wie die anderen Diskriminierungen auch. In der Konsequenz heißt das, dass das Arbeiterkind dieselben Chancen haben soll Millionär zu werden wie das Millionärskind. Aber dass es Arbeiter gibt und Millionäre, wird in diesem Ansatz nicht kritisiert und auch gar nicht analysiert.
Identitätspolitik und Intersektionalismus können Diskriminierungen nur beschreiben. Damit können sie zu ihrem Abbau beitragen. Aber gesellschaftliche Strukturen, dahinterliegende materielle Verhältnisse, fassen sie nicht an. Darum sind sie politisch nur bedingt brauchbar.
Da werden die intersektionalen Feministen widersprechen, sie sehen ihre ideologische Reduzierung eben als ein alles erklärendes Modell an, welches keine weitere Aufklärung benötigt. Es ist in sich geschlossen und die Ermittlung weiterer Gründe als „Die sind Priviligiert und die nicht, also müssen die nur ihre Privilegien abgeben“ braucht man nicht um die Strukturen zu ändern. Im Gegenteil: In der Aufklärung weiterer Faktoren steckt dann ein Angriff auf die eigentlichen Thesen und vielleicht sogar eine Schuldzuweisung an die Unterdrückten.
Brauchbar ist die Methode zur Überprüfung der eigenen Position. Wir sollten uns als politische Menschen immer fragen, ob wir etwas überhaupt beurteilen können und was die Basis unserer Erkenntnis ist. Ich weiß nicht, wie Eltern ohne Hochschulabschluss jetzt mit dem Digitalunterricht klarkommen. Ich kann es mir vorstellen, kann Studien darüber lesen, aber es bleibt immer ein Rest, die Ängste, die Ohnmacht, die damit einhergehen, den ich nicht erfassen kann.
Dass der Diskriminierte seine Situation besser erfassen kann, beschreibt schon Hegel in seiner Dialektik von Herr und Knecht. Es ist daher richtig, dass die Änderung der Verhältnisse damit beginnen muss, die Betroffenen zu hören und ernst zu nehmen. Es ist aber eine Verballhornung dieser Erkenntnis, wenn man nun meint, Weiße dürften gar nichts mehr dazu sagen. In der Konsequenz würde es übrigens dazu führen, dass die Chancen, Rassismus und Ungerechtigkeiten abzubauen, deutlich sinken dürften.
Das ist in der Tat wenig durchdacht, was hier auch schon Gegenstand von Artikeln war
Ich glaube übrigens, dass es einigen Protagonistinnen genau darum geht: Sie wollen Rassismus nicht bekämpfen, sondern präservieren. Wozu sollten sie denn sonst forschen? Aber das ist ein anderes Thema.
Hehe. Netter Seitenhieb und durchaus richtig.