SPIEGEL: Herr Piziali, in vielen Ländern haben die Fälle häuslicher Gewalt in der Coronakrise zugenommen. Wie ist die Situation in Italien?
Stefano Piziali: Ich gehe davon aus, dass die Übergriffe auch in Italien mehr geworden sind, leider haben wir noch keine offiziellen Zahlen. Eine Frau, die schon vor der Coronakrise von ihrem Mann verprügelt wurde, wird jetzt erst recht häusliche Gewalt erfahren. Weil der Mann rund um die Uhr zu Hause ist; weil Aggressionen schwer abzubauen sind. Oft kommt durch Lohnausfälle oder Jobverlust noch neues Wutpotenzial dazu. Diese Männer sind wie Tiger in einem Käfig. Und das Perfide ist: Wir bekommen von diesen Gewalttaten noch weniger mit als sonst.
SPIEGEL: Warum?
Piziali: Die Anrufe von Frauen bei uns sind um 80 Prozent zurückgegangen. Und auch die Anzeigen häuslicher Gewalt bei der Polizei sind weniger als vor der Coronakrise. Das bestätigen aktuelle Zahlen der Behörden. Das nationale Nottelefon für Frauen, das „telefono rosa“ mit der Nummer 1522, verzeichnete im März halb so viele Anrufe wie im Vorjahreszeitraum. In den vergangen Tagen haben die Anrufe aber wieder etwas zugenommen.
SPIEGEL: Wie passt das zusammen?
Piziali: Gerade in ärmeren Gegenden gibt es in vielen Haushalten nur ein Telefon. Eine Frau kann also gar nicht unbemerkt den Notdienst anrufen. Oft gibt es auch nur einen Computer, zudem schlechtes oder gar kein Internet. Es gibt Frauen, die kein eigenes Handy haben. Sie sind im Lockdown rund um die Uhr unter der Beobachtung ihrer Männer. Außerdem bleiben körperliche Verletzungen von der Gesellschaft unbemerkt, weil die Betroffenen rund um die Uhr in der Wohnung sind. Leichtes Spiel für ihre Peiniger.