Fräulein Schmidt liebt es Bücher vorgelesen zu bekommen. Wir haben daher schon einen großen Teil Kinderbücher angesammelt, darunter auch eins, welches die Geschichte vom Rotkäppchen und dem bösen Wolf in sehr entschärfter Version: Die Großmutter wird vom Wolf nur in den Schrank gesperrt und der Jäger ist ein Holzfäller, der vor dem Gefressenwerden hereinkommt und den Wolf in die Flucht schlägt. In einem Bild, nämlich dem, wo der Wolf sich gerade auf das Rotkäppchen stürzen will, hat der Wolf sogar „Fühlfell“ – angenehm flauschig und weich.
Das konkrete Buch haben wir von der Oma mütterlicherseits geschenkt bekommen, auf südländisch, aber der Inhalt ist ja bekannt und ich lese es ihr trotzdem gerne vor.
Aber während man dann das gleiche Buch zum hundersten und gefühlt tausendsten Mal vorliest schweifen die Gedanken natürlich etwas ab.
Und da Fräulein Schmidt meine diesbezüglichen Ausführungen wahrscheinlich wenig positiv aufnehmen würde, sondern eher verlangen würde, dass ich das Buch weiter lese und danach ein weiteres, muss ich sie hier mal abladen.
Hier als Besprechungsgrundlage eine klassische Version des Märchens:
Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Samt, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen. Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm: „Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Wege ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiss nicht guten Morgen zu sagen und guck nicht erst in allen Ecken herum!“
„Ich will schon alles richtig machen,“ sagte Rotkäppchen zur Mutter, und gab ihr die Hand darauf. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. „Guten Tag, Rotkäppchen!“ sprach er. „Schönen Dank, Wolf!“ – „Wo hinaus so früh, Rotkäppchen?“ – „Zur Großmutter.“ – „Was trägst du unter der Schürze?“ – „Kuchen und Wein. Gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke und schwache Großmutter etwas zugut tun und sich damit stärken.“ – „Rotkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?“ – „Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nusshecken, das wirst du ja wissen,“ sagte Rotkäppchen. Der Wolf dachte bei sich: Das junge, zarte Ding, das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte. Du musst es listig anfangen, damit du beide schnappst. Da ging er ein Weilchen neben Rotkäppchen her, dann sprach er: „Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen. Warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig haussen in dem Wald.“
Natürlich kann man einen sprechenden Wolf kritisieren, aber darum geht es mir nicht.
Sondern eher darum, dass der Plan des Wolfs ja überhaupt keinen Sinn macht:
Warum muss er es listig anstellen, damit er beide bekommt? Er könnte ja jetzt das Rotkäppchen als Vorspeise versperren und dann zur Großmutter, sich dort als Rotkäppchen ausgeben und sie dann gleich hinterher. Da er anscheinend eh ein Gierschlund ist und alles ohne zu kauen herunterschluckt mit Haut und Haaren und Kleidung hätte er auch nur etwas voraus laufen müssen, selbst dann wenn er das Mädchen als Nachspeise möchte.
Der Plan scheint daher unnötig kompliziert.
Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, dachte es: Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen; es ist so früh am Tag, dass ich doch zu rechter Zeit ankomme, lief vom Wege ab in den Wald hinein und suchte Blumen. Und wenn es eine gebrochen hatte, meinte es, weiter hinaus stände eine schönere, und lief danach und geriet immer tiefer in den Wald hinein. Der Wolf aber ging geradewegs nach dem Haus der Großmutter und klopfte an die Türe. „Wer ist draußen?“ – „Rotkäppchen, das bringt Kuchen und Wein, mach auf!“ – „Drück nur auf die Klinke!“ rief die Großmutter, „ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen.“ Der Wolf drückte auf die Klinke, die Türe sprang auf und er ging, ohne ein Wort zu sprechen, gerade zum Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann tat er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge vor.
Auch hier: Warum die Verkleidung? Wenn er hinter der Tür gewartet hätte oder auch nur die Bettdecke übergezogen hätte, dann hätte es den gleichen Effekt gehabt.
Haben wir es mit einem etwas sadistischen Wolf zu tun? Oder einem sehr verspielten?
Rotkäppchen aber, war nach den Blumen herumgelaufen, und als es so viel zusammen hatte, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich, dass die Tür aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, dass es dachte: Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir’s heute zumut, und bin sonst so gerne bei der Großmutter! Es rief: „Guten Morgen,“ bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück. Da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus. „Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!“ – „Dass ich dich besser hören kann!“ – „Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!“ – „Dass ich dich besser sehen kann!“ – „Ei, Großmutter, was hast du für große Hände!“ – „Dass ich dich besser packen kann!“ – „Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!“ – „Dass ich dich besser fressen kann!“ Kaum hatte der Wolf das gesagt, so tat er einen Satz aus dem Bette und verschlang das arme Rotkäppchen.
Rotkäppchen ist – ungeachtet der Lichtverhältnisse – nicht die hellste. Oder die Großmutter hatte sehr große fellige Ohren. Und nach „damit ich dich besser packen kann“ noch weiterzufragen… die wollte doch gefressen werden!
Wie der Wolf seinen Appetit gestillt hatte, legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und fing an, überlaut zu schnarchen. Der Jäger ging eben an dem Haus vorbei und dachte: Wie die alte Frau schnarcht! Du musst doch sehen, ob ihr etwas fehlt. Da trat er in die Stube, und wie er vor das Bette kam, so sah er, dass der Wolf darin lag. „Finde ich dich hier, du alter Sünder,“ sagte er, „ich habe dich lange gesucht.“ Nun wollte er seine Büchse anlegen, da fiel ihm ein, der Wolf könnte die Großmutter gefressen haben und sie wäre noch zu retten, schoss nicht, sondern nahm eine Schere und fing an, dem schlafenden Wolf den Bauch aufzuschneiden. Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er das rote Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rief: „Ach, wie war ich erschrocken, wie war’s so dunkel in dem Wolf seinem Leib!“
Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum atmen. Rotkäppchen aber holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, dass er gleich niedersank und sich totfiel.
Dem schlafenden Wolf den Bauch aufschneiden können, ohne das er aufwacht oder stirbt, aber anscheinend nicht die ruhige Hand für einen Kopfschuß bei einem offenkundig sehr tief schlafenden Wolf.
Und auch das verfüllen mit Steinen erscheint eine recht unnötige Aktion, gerade wenn der Bauch schon aufgeschnitten ist und alle „Geiseln“ befreit sind. Der Jäger scheint auch seinen Beruf verfehlt zu haben, einem schlafenden den Bauch aufzuschneiden und ihm den Bauch voll Steine zu füllen, die ihn dann erst beim Aufstehen durch das Gewicht umbringen ist schon recht beachtlich.
Da waren alle drei vergnügt. Der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder; Rotkäppchen aber dachte: Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir’s die Mutter verboten hat.
Immerhin eine gute Lehre, die da gezogen wird.