Alles Thermodynamik – Menschliches Verhalten und Entropie (Gastartikel)

Dies ist ein Gastartikel von Fabian „Curiepolis“ Herrmann

„Diese Kommunismusgeschichte. Wäre schön gewesen, ging aber nicht wegen menschl. Natur, die Realität ist eben gemein. Wieso: Wäre schön gewesen? Was wäre so toll dran: Alle in identischen Häuschen mit Garten und Tabakbeet – eins neben dem anderen in endlosen, gesichtslosen Reihen – nie erhebt sich jemand oder denkt an seinen eigenen Vorteil, denn alle privaten Vorteile sind abgeschafft. Gemeinwohl: dafür arbeitet man ausschließlich. Absterben des Staates, dann des Ichs – das Ichgefühl wird diffus, ungreifbar wie Nebel, der sich langsam auflöst. Man fühlt für alle, handelt für alle. Ich bin großartig, weil ich das und das mache – sowas denkt man nicht mehr, kann man nicht mehr denken. Das Wort ich wird bedeutungslos. Lexikalisch existiert es noch, doch es bezeichnet nur noch simple Empfindungen: Ich bin müde, ich bin hunrig, ich bin satt… Das Ich als gefühlte, handelnde Person ist tot. Ging nicht wegen menschl. Natur – das stimmt, und spricht für diese Natur, was auch immer sie sein mag.“ – so Herr Hennigsdorf, ein Lehrer, in meinem Curiepolis-Roman. Seine Argumentation, dass die „menschliche Natur“ nicht zu schlecht, sondern zu gut ist, als dass Kommunismus längerfristig funktionieren könne, lässt sich auf einige andere Bereiche übertragen. Menschen sind in vielem besser, als man landläufig zuzugeben bereit ist.

Unsere Instinkte und Verhaltensschemata entstanden im Zuge einer Jahrmilliarden währenden natürlichen Auslese, deren bemerkenswertestes Resultat die langfristig anwachsende Kephalisierung ist – Ausbildung immer größerer Zentralnervensysteme. Isoliert gesehen, erinnert die Evolution an ein „thermodynamisches Wunder“, d.h. ein zwar physikalisch nicht unmöglicher, doch wahnwitzig unwahrscheinlicher Prozess, bei dem der Ordnungsgrad eines Systems sich spontan erhöht. Viel wahrscheinlicher – sogar mit einer Wahrscheinlichkeit nahezu gleich Eins eintretend – ist die umgekehrte Entwicklungsrichtung. Man drückt dies durch den Zweiten Thermodynamischen Hauptsatz aus: Im abgeschlossenen System nimmt die Entropie stets zu. Diese, symbolisiert durch das Formelzeichen S, stellt ein Maß für die Abwesenheit von Strukturen dar:

S = k * ln Ω

k ist hier die Boltzmann–Konstante, ln der natürliche Logarithmus, der gezogen wird aus der reinen Zahl Ω, der Anzahl möglicher Mikrozustände, die zu einem beobachteten Makrozustand passen. Je geordneter ein System ist, desto kleiner ist die Zahl dieser Zustände, desto geringer die Entropie.

Beispielsweise hat ein Sandhaufen eine sehr hohe Entropie, da zu diesem Erscheinungsbild viele Mikrozustände passen. Ich kann die Sandkörner durcheinanderrühren, sie umschichten, umordnen – am Aussehen und den Eigenschaften des Sandhaufens ändert sich dadurch nichts. Wird der Sand jedoch zu einem Mikrochip weiterverarbeitet, der als CPU eines Computers dient, dann sinkt die
Entropie dadurch beträchtlich: Denn zur Erscheinung „funktionstüchtiger Schaltkreis“ gehören nur wenige Mikrozustände – Ausfall eines einzigen logischen Gatters führt unter Umständen bereits dazu, dass der Computer nicht mehr bootet. Um eine solche Entropiesenkung zu ermöglichen, muss von außen Arbeit am System geleistet werden.

Die entropiereichste Struktur, die mathematisch möglich ist, ist das Schwarze Loch: Man kann alle möglichen Dinge, Informationen, Strukturen in ihm versenken, von außen gesehen bleibt es unverändert – bis auf eine gewisse Massenzunahme. Die entropieärmste Struktur, die wir bislang entdeckt haben: unser eigenes Gehirn. Damit es im Einklang mit dem Zweiten Thermodynamischen Hauptsatz entstehen konnte, muss irgendetwas von außen Arbeit an der irdischen Biosphäre verrichtet haben – es handelt sich natürlich um die Sonne!

Je stärker die Energie in einem Strahlungsstrom auf einzelne Photonen konzentriert ist, desto geringer ist die Entropie, die dieser Strom transportiert. Die Erde nimmt von der Sonne überwiegend Strahlung im sichtbaren Bereich auf, entsprechend einer Schwarzkörpertemperatur von 6000 Kelvin, die an der Sonnenoberfläche herrscht. Nachts strahlt der Planet Infrarotphotonen ab. Dieser „Entropiesprung“ von kürzer- zu längerwelliger Strahlung ermöglicht die Entstehung komplexer Strukturen auf der Erde. Während im Universum insgesamt die Entropie steigt, vermag sie innerhalb der Biosphäre zu fallen, da die nächtlich ins All abströmende Wärmestrahlung
Entropie fortträgt.
Alle Lebensformen auf der Erde (mit Ausnahme gewisser Arten von Chemotrophen, die in der Umgebung schwarzer Raucher in der Tiefsee existieren) mussten sich auf dem Abhang zwischen niederentroper Zu- und hochentroper Abstrahlung einrichten. Dieser Ordnungs-Unordnungs- Gradient stellt die ultimative Ursache des Selektionsdrucks dar. Hierfür gibt es ein faszinierendes Beispiel aus der menschlichen Verhaltensbiologie.
Grüne Pflanzen wandeln die einfallende Sonnenstrahlung mit einer Effizienz von maximal einem halben Prozent in Glukosemoleküle (lediglich speziell gezüchtetes Zuckerrohr erreicht respektable acht Prozent). In Europa liegt die mittlere Energieflussdichte der solaren Einstrahlung bei 120 Watt pro Quadratmeter, in den Tropen bei zwei– bis dreihundert Watt. Menschliche Körper setzen eine Zeitmittelleistung von 120 Watt um: Das bedeutet, dass jede Person ein Areal von mindestens zweihundert Quadratmetern kontrollieren muss, um am Leben zu bleiben und sich fortzupflanzen – in der Zeit vor der industriellen Landwirtschaft sogar noch um Größenordnungen mehr, da nicht jede Pflanze als Nahrung für Menschen geeignet ist, und essbare Tiere einen Großteil der aus Pflanzen aufgenommenen Energie selbst verbrauchen. Im Paläolithikum lag die Bevölkerungsdichte bei einer Person auf drei Quadratkilometern. Da nun jene Lebewesen ihre Erbinformation in der Population anzureichern vermochten, denen es gelang, die Entropie in ihren eigenen Körpern niedrig zu halten – die also die Fähigkeit hatten, sich ausreichend Nahrung zu beschaffen – entstanden Instinktschemata, die wir als „egoistisch“ werten. Denn wenn irgendwer mir einen Teil meines mühsam eroberten Stückchens Erdoberfläche streitig machen möchte, dann fehlen mir eventuell wertvolle Watt, die ich zur Erhaltung meines Nervensystems und meiner Erbinformation dringend benötige! Trau nur dir und nie der Prärie – und falls jemand zu zudringlich wird, halte einen soliden Holzprügel bereit…
Um Zugriff auf die zur Weitergabe und Vervielfältigung von genetischer Information erforderliche Energieflussdichte sicherzustellen, waren komplexe Nervensysteme offensichtlich von Vorteil. Im Laufe der Evolution der Gattung Homo entstand jedoch durch zufällige Mutation ein kleines Übergewicht – eine Überkapazität, die die thermodynamischen Verhältnisse auf der Erde änderte.

Momentan residiere ich im Döblin–Haus in Wewelsfleth an der Elbmündung, einen kurzen Spaziergang entfernt arbeitet das Kernkraftwerk Brokdorf. Es setzt auf einer Fläche von einem Viertelquadratkilometer eine elektrische Leistung von 1400 Megawatt frei, entsprechend einer Energieflussdichte von 5600 Watt pro Quadratmeter. Die enorme Hirnkapazität des Menschen taugt zu mehr als nur zum Überleben als Jäger und Sammler: Sie hat uns ermöglicht, durch wissenschaftliche Forschung und technische Erfindungen die verfügbare Energieflussdichte enorm über das von Sonneneinstrahlung und Photosynthese Vorgegebene hinaus zu steigern.

Hierdurch wurde der Kampf um Landfläche und Ressourcen massiv entschärft. Menschen können heute in Riesenstädten mit vielen Millionen Einwohnern zusammenleben – dennoch kommt es, trotz hoher Verbrechensraten in manchen Gegenden, in der Regel nicht zu Mord und Totschlag. Die Wahrscheinlichkeit, von einem anderen Menschen verletzt zu werden, ist seit der Industrialisierung sogar weltweit extrem gefallen. Wir leben länger, sicherer, gesünder als alle Generationen vor uns.

Unser Nervensystem, das primär zur Verfolgung „egoistischer Ziele“ (Sicherstellung des Energienachschubs zur Niedrighaltung der Entropie in unseren Körpern) entstand, befähigt uns, durch Veränderung der physikalischen Strukturen auf der Erde Bedingungen zu schaffen, unter denen Konkurrenz und Konflikte gegenüber der Urzeit sehr stark reduziert sind. Je höher die technisch erzielbare Energieflussdichte, desto mehr Menschen können in einem bestimmten Gebiet zusammenleben, ohne sich gegenseitig an den Kragen zu gehen.

Wir sind nicht länger nur eine biologische Spezies. Wir haben uns mit einem mächtigen Exoskelett aus Stahl, Silizium, Kupfer, Aluminium, Aktiniden, Strom, Plasma und Laserlicht umgeben, welches unser Dasein, bei Beibehaltung der genetischen und psychologischen Struktur, grundlegend transformiert und uns völlig neue Möglichkeiten eröffnet hat. Schon bald könnte sogar unsere DNS selbst Ziel technischer Verbesserungen werden!

Unterstützt wurden diese Entwicklungen vom kapitalistischen Wirtschaftssystem in seinen verschiedenen Realisierungsformen. Es ist am besten an die Basispsychologie des Menschen angepasst. Dadurch, dass es eine gewisse Konkurrenz, einen Wettlauf um die beste, eleganteste, effizienteste Lösung aufrechterhält, spornt es Menschen an, ihr Bestes zu geben und beflügelt technische Neuerungen. Unser angeborener „Egoismus“ ist daher bezüglich seines Gesamteffekts keine destruktive, unmenschliche Kraft, sondern Grundlage einer Gesellschaft, in der Reichtum statt Knappheit, Kooperation statt Kampf um jeden essbaren Wurzelknollen herrscht.

Seit der Aufklärung sind immer wieder Bewegungen aufgetaucht, die einen völlig konfliktlosen, unaufgeregten Endzustand der Menschheit anstreben, in dem sich nichts mehr ändert und universelle Harmonie herrscht. Das gilt für die Marxisten mit ihrer klassenlosen Gesellschaft, für die Grünen, die „Leben im Einklang mit der Natur“ propagieren, und auch für die „Social Justice Warriors“, denen zufolge Menschen normalem Kommunikations– und Flirtverhalten nicht standzuhalten vermögen, ohne psychische Traumata zu entwickeln, weswegen dieses schleunigst aberzogen und durch allumfassende Rücksichtnahme und Selbstbeschränkung ersetzt werden soll.

Ich verstehe diese Denkweise nicht. Es geht hier noch nicht einmal um realistisch vs. unrealistisch, sondern darum, ob das angestrebte Resultat wünschenswert scheint. Was wäre so großartig an einem idyllischen Zustand, der bis in fernste Zukunft aufrechterhalten wird und in dem nichts aufregendes mehr geschieht? Das klingt eher nach einem Alptraum. Alles, was uns aus der Reserve lockt, uns dazu treibt, über den eigenen Schatten zu springen – sei es, dass wir unser Leben umkrempeln, um eine Erfindung zu machen und an den Start zu bringen; sei es, dass wir den kühlen Grusel der Ansprechangst überwinden und die rothaarige Kerntechnikstudentin zu einem Spaziergang am Elbufer einladen – trägt direkt oder indirekt dazu bei, dass Fähigkeiten, Wissen und Gestaltungsmöglichkeiten der Menschheit wachsen.

Das ist etwas Wunderbares.