Ein Artikel berichtet darüber, dass es in Russland wohl Unmut darüber gibt, dass sich russische Frauen mit WM-Fans vergnügen. Aus einem Interview:
ZEIT ONLINE: Ein Kommentar einer Boulevardzeitung hieß „Zeit der Luder“. Man wirft den Frauen vor, Schande über sich und Russland zu bringen. Woher kommt der Hass?
Narinskaja: Das hat, glaube ich, zwei Gründe. Zum einen gab es nach dem Zusammenbruch der UdSSR eine Ideologielücke. Nach Jahren der relativen Freiheit unter Lenin wurden die Regeln nach dem zweiten Weltkrieg im „Moralkodex der Erbauer des Kommunismus“ neu geschrieben. Die sexuelle Freiheit verschwand damit wie vieles andere auch. In den ersten Jahren unter Putin gelang es der orthodoxen Kirche dann irgendwie, bei diesem Thema in das Ideologie-Vakuum zu schlüpfen und die Meinungshoheit zu übernehmen. Der zweite Grund ist die Propaganda über den Westen. Die Frauen küssen jetzt Männer, die gegen uns sind. Was nicht sein darf, kann nicht sein.
ich hatte schon mal an anderer Stelle geschrieben:
Sozialismus ist eine Ideologie, die die Gemeinschaft an erste Stelle stellt und das Individuum dahinter zurücktreten lässt. Jede Ideologie, die darauf abstellt, hat ein Trittbrettfahrerproblem und muss ein entsprechendes Denken, dass jeder seinen Teil beitragen muss, besonders predigen und doch vorhandene Trittbrettfahrer bestrafen.
Deswegen braucht ein Kommunismus üblicherweise eine starke Identitätspolitik, ein wir gegen die und eine Form des Nationalismus – Es wird zwar die Internationale gesungen und die Einheitlichkeit aller kommunistischen Länder beschworen, aber alle anderen sind eben die Bösen und die Gemeinschaft, die Treue zur Gemeinschaft und der Staat sehr wichtig. Es würde mich also nicht verwundern, wenn viele dort gerne das Vakuum mit was auch immer gefühlt haben und gewissen Nationalismus vertreten.
ZEIT ONLINE: Schon vor der WM warnte die Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Familien, Frauen und Kinder, keine intimen Verhältnisse mit Fremden zu haben und stattdessen eigene Kinder zu gebären. Ist die Frau in Russland schon immer eine politische Figur?
Narinskaja: Oh ja. In der Sowjetunion waren Frauen in höchsten politischen Ämtern. Sie durften auch wählen, sich ohne Angabe von Gründen scheiden lassen, kostenlos abtreiben, über ihr eigenes Geld verfügen. Sie waren auch gesellschaftlich gleichgestellt. Viele Frauen waren in Leitungsberufen, so wie Irina Antonowa, die langjährige Chefin des Puschkin-Museums. Aber wenn sie nach Hause kamen, gab es immer noch das alte Rollenbild: Die Frau hatte zu kochen und sich um die Kinder zu kümmern. Das war ihre Pflicht, es erschien angemessen. Damit war sie eine gute Bürgerin. Während im Westen die Frauen ab den Siebzigern für ihre Rechte kämpften, blieb unser Familienbild dort hängen.
Das ist eben der Vorteil einer freieren Wirtschaft: Man ist weitaus eher selbst für sein Leben verantwortlich und es kann einem weitaus weniger eine bestimmte Lebensform aufgezwängt werden als bei einem Staat, der alles kontrolliert.
Andererseits scheint das ja andersherum auch in die gleiche Richtung zu gehen: Die russische Frau will auch einen „echten Mann„.
ZEIT ONLINE: Ist das bis heute so geblieben? Gab es eine #MeToo-Debatte?
Narinskaja: Es gab sie, dem Politiker Leonid Sluzki wurde Belästigung vorgeworfen. Aber ihm ist selbst der Frauenclub der Duma beigesprungen. Bei Harvey Weinstein waren sich selbst meine liberalen Freunde einig, dass es als Ja zu werten ist, wenn die Frau mit aufs Hotelzimmer geht. Ist die Tür geschlossen, ist es akzeptiert. Sich erst dreimal absichern zu müssen, das zerstört die Romantik. Dass Frauen das gleiche Recht wie der Mann haben sollten, ihr Nein auch durchzusetzen, das kommt einem Russen fremd vor. #MeToo war deshalb eher ein weiterer Beleg dafür, dass der Westen durchdreht.
Zu dem Fall Sluzki:
Die BBC hatte den Wortlaut eines Gesprächs Sluzkis mit der Journalistin Farida Rustamowa veröffentlicht. „Nein, du läufst vor mir weg, willst dich nicht küssen lassen, ich bin böse auf dich“, sagte der Abgeordnete demnach. Nachdem die Reporterin entgegnete, sie habe einen Freund, den sie heiraten möchte, sagte Sluzki weiter: „Hervorragend, du wirst seine Frau und meine Geliebte sein.“
Als erstes hatte TV Rain die Vorwürfe gegen Sluzki veröffentlicht. Der oppositionelle Internetsender hatte drei anonyme Parlamentsjournalistinnen zitiert. Alle hatten erklärt, Sluzki habe sie berührt und Interviews mit ihm als Gegenleistung für gemeinsame Treffen angeboten.
Der Ethikausschuss des Parlaments kam trotz aller Vorwürfe zum Schluss, dass es bei dem Abgeordneten „keine Verhaltensverstöße“ gegeben habe. Die für Sluzki entlastende Entscheidung hat zu der Protestaktion der Medien geführt.
Da sind natürlich auch wenig Einzelheiten vorhanden, insbesondere dazu, was es für Beweismittel gegeben hat. Ansonsten scheinen die Russen eine eher direkte Einstellung zu der Sache zu haben. Der Gedanke, dass man damit rechnen muss, dass er was versucht, wenn man ihm auf sein Hotelzimmer folgt, ist ja aber auch nicht ganz falsch.
ZEIT ONLINE: Gibt es denn keinen russischen Feminismus, der helfen könnte?
Narinskaja: Wird man in Russland Feministin genannt, wird man gleichzeitig für verrückt erklärt. Uns fehlt leider ein populärer, liberaler Feminismus. Wir haben einige interessante feministische Philosophinnen, Dichterinnen und Künstlerinnen. Die sind aber zu radikal und zu intellektuell, um von vielen russischen Frauen verstanden zu werden.
Ein liberaler Feminismus fehlt überall auf der Welt. Anscheinend sind die Russen in der Hinsicht für wesentlich weniger Bullshit zu haben. Wer zu sehr verklausuliert, der ist nicht erfolgreich.