Toleranz vs. (bremsende) Regeln vorgeben

In die Debatte um die Anschaffung von „Burkinis“ für den Schwimmunterricht an Schulen mischt sich ein Verein ein, der bereits seit längeren Schwimmunterricht gibt:

Ich weiß, wovon ich rede. Seit zweieinhalb Jahren arbeite ich im Rahmen des Vereins LieberLesen e. V. mit muslimischen Mädchen, die seit 2015 in einer Flüchtlingsunterkunft in einer hochgradig repressiven Parallelgesellschaft leben. Vor zwei Jahren hatten wir die Mittel eingeworben, um einer Gruppe von Mädchen Schwimmunterricht erteilen zu können. Unsere Position war eindeutig: Schwimmunterricht nur im normalen einteiligen Badeanzug. Den würde der Verein den Mädchen spendieren. Vor Beginn des Schwimmunterrichts wurden die Eltern zusammengerufen, das Foto einer 13-jährigen Altersgenossin im schwarzen Badeanzug hing im Großformat an der Wand; eine Kollegin aus Syrien half beim Übersetzen und Argumentieren: darüber, wie wichtig Schwimmen gerade für Mädchen ist; darüber, dass die Art der Badebekleidung weder von Mohammed noch im Koran vorgeschrieben ist; darüber, dass Verhüllungsvorschriften für Frauen nicht religiös fundiert sind und auch nicht vom Islam eingeführt wurden, sondern 2000 Jahre vor dem Erscheinen von Mohammed zur Zementierung einer patriarchalen Männerherrschaft im Orient erfunden wurden, um Frauen unsichtbar, unbeweglich und schwach zu machen.

Wir haben den Eltern klargemacht, dass ihre Töchter nur dann am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen, wenn sie, die Eltern, unterschreiben, dass sie mit dem Tragen eines normalen einteiligen Badeanzugs einverstanden sind. Alle Eltern haben unterschrieben; alle Mädchen haben Schwimmunterricht erhalten, alle Mädchen haben sich nach anfänglichen Schwierigkeiten daran gewöhnt, dass in der Schwimmhalle auch Jungen zugegen sind, alle Mädchen haben das Seepferdchen und das Bronzeabzeichen gemacht, alle Mädchen sind wilde Wasserratten geworden und scheren sich nicht darum, was sie anhaben und wer in der weiteren Umgebung des Schwimmbades anwesend ist. Warum können unsere verantwortlichen Instanzen – Politik, Verwaltungen, Schulen – nicht den Mumm aufbringen, bei uns herrschende Regeln und Selbstverständlichkeiten von den Menschen zu verlangen, die bei uns Schutz suchen, und die wir ernähren.

Das ist ja ein Phänomen, welches man häufiger antrifft. Wer Leuten nicht die Möglichkeit gibt, dass sie es auf ihre Weise machen können, sondern die Art und Weise vorgibt, der gibt erst gar nicht die Möglichkeit zu einer Diskussion und damit auch nicht die Gelegenheit zum Virtue Signalling.

Es ist insbesondere ein guter Weg ein Race to the Bottom zu verhindern, bei der die extremsten die Bedingungen vorgeben und andere meinen, ihnen folgen zu müssen, weil alles andere sie schlecht aussehen lassen würde.

Wenn man eben beim Schwimmunterricht keinen Burkini tragen darf und auch noch angeführt wird, dass man die Gegenargumente dazu hat, dass dieser Erforderlich ist, dann mögen ein paar Extreme ihre Kinder vielleicht nicht anmelden, die weniger extremen fühlen sich aber gleichzeitig nicht schlechter, weil ihnen der Weg dahin ja abgeschnitten ist.

Jemanden die Entscheidung abzunehmen kann als Befreiung empfunden werden, weil man dann die eigene Botschaft weniger kontrollieren muss.

Ein klassisches Beispiel sind Kinder, denen man die Wahl überlässt, ob sie zum Umgang zum Vater gehen, und die das Gefühl haben, dass sie der (traurigen) Mutter signalisieren müssen, dass sie sie lieber haben als den Vater und da gar nicht hin wollen. Dem Kind zu sagen, dass die Eltern/das Gericht es für es entschieden haben und das so gemacht werden muss kann dann eine Befreiung sein.

Ein anderes Beispiel wäre ein Flirt, bei dem der Mann aktiv wird und die Frau das Gefühl hat, dass es „einfach so passiert ist“

Im modernen Feminismus fehlt dieses Regulativ in gewisser Weise. Keiner darf dort sagen, dass gewisse Anfeindungen oder Anprangerungen zu weit gehen. Es gibt niemanden, der sagt, dass es genug ist und das der normale Schwimmanzug reicht und der Burkini zuviel ist . Deswegen entwickelt sich dort immer ein Race to the Bottom, in der jeder noch eine nur von ihm gefundene Diskriminierung nachlegen will.