„Wenn die Frauen ihre Furcht verlieren sollen, müssen die Männer diese Furcht erst selbst kennenlernen“

Augstein schreibt in einen schon an vielen Stellen besprochenen Artikel:

Denn wir brauchen in der Tat eine Revolution. Eine neue sexuelle Revolution. Wie jede Revolution wird auch diese hier nicht ohne Opfer abgehen. Das ist eine Feststellung, keine Rechtfertigung.

Es wird Männer treffen, die das nicht verdient haben. Wir kennen solche Fälle….[Arnold und Kachelmannfälle werden kurz dargestellt]…

Der Ansatz, dass es Leidtragende gibt, wenn man etwas ändert, ist nicht per se falsch. Jede Veränderung bringt wahrscheinlich jemanden, für den das auch sehr ernste Konsequenzen hat.

Natürlich haben wir auch bereits jetzt ein System, welches offensichtlich nicht gegen Falschbeschuldigungen abgesichert ist: Wir haben immer noch keine Möglichkeit eine Lüge sicher von der Wahrheit zu unterscheiden und wir nehmen damit auch jetzt bereits einen gewissen Anteil an Falschverurteilungen in Kauf, die mit mehr Aufwand vielleicht vermieden werden könnten. Jedes System, welches überprüft, muss irgendwo eine gewisse Unsicherheit zulassen und wenn eine Schuld „zur sicheren Überzeugung des Gerichts“ vorliegen muss kommt immer ein menschlicher Faktor hinein.

Aber (und es ist kein kleines Aber): Die Unschuldsvermutung und die relativ hohen Standards, die für eine Verurteilung gelten, sind ein hohes Gut, weil sie Mißbrauch des Staates gegen seine Bürger vorbeugen. Und sie beugen auch vor, dass jemand sich mit dem Staat als Werkzeug eines anderen entledigt und ihm Schaden zufügt, in mittelbarer Täterschaft. Wer meint, dass dies nicht geschieht, der lese sich hier durch aus welchen nichtigen Anlässen Vergewaltigungen behauptet worden sind. Um so leichter man das macht, um so häufiger wird es auch vorkommen.

Nun kann man anführen, dass es eine schlichte Rechenaufgabe ist: Die „Revolution“ schützt auf der einen Seite Frauen und verhindert sexuelle Übergriffe (Freude). Auf der anderen Seite bringt sie einen gewissen Teil von Leuten  unschuldig ins Gefängnis (Leid). Wenn bei einer rein utilistischen Betrachtung die Freude das Leid übersteigt, dann wäre die Welt ja dadurch besser geworden.

In der neuen Geschlechterdebatte geht es darum, die Gewichte der Macht zu verschieben – und das geht nicht ohne Gewalt ab. Wer verfügt über die Möglichkeit, den anderen jederzeit und ohne nennenswertes eigenes Risiko zu gefährden oder zu erniedrigen? Bisher waren das immer die Männer. Die Frau, die sich wehrt, wird da zur Schreckensvision.

Nun hört man schon die Männer – und manche Frauen – murren, dann dürfe bald also auch in Deutschland kein Mann mehr allein mit einer Frau im Fahrstuhl fahren. Aber das klagt sich leicht, wenn man dabei übergeht, dass das Risiko einer solchen Fahrt bislang vor allem bei der Frau lag.

Wer um den unbeschwerten Umgang der Geschlechter trauert, sollte bedenken, dass aus weiblicher Sicht damit nichts anderes gemeint war als die dauernde Gegenwart der Gefahr – das permanente Risiko körperlicher oder seelischer Übergriffe.

Es ist schon so: wenn die Frauen ihre Furcht verlieren sollen, müssen die Männer diese Furcht erst selbst kennenlernen.

Die Idee des Ausgleichs, der Waffengleichheit, wird auch in dem, was Augstein schreibt, deutlich. Bisher hat die eine Gruppe Angst und erfährt Leid, die andere ist unbeschwert. Wir verteilen die Last einfach neu, nehmen der einen Seite etwas Angst und Leid und laden sie auf der anderen Seite ab. Wer könnte etwas dagegen haben?

Tatsächlich ist es aber ein großer Unterschied, weil Männer und Frauen keine selbst gewählten Gruppen sind, die für das Verhalten ihrer Mitglieder einstehen müssen. Es sind Individuen und Bürger, und sie haben daher das Recht als solche behandelt zu werden. Weil bestimmte (sehr wenige) Männer schlecht sind kann man den anderen nicht rechtsstaatliche Grundrechte absprechen.

Es hat wahrscheinlich auch seine Gründe, warum in solchem Artikeln, die fordern, dass „Männer Angst haben sollten“ nie über konkrete Maßnahmen gesprochen wird. Es wird gerne von „es muss etwas gemacht werden“ oder der „Revolution“ gesprochen, aber nicht davon, wie diese Maßnahme konkret aussehen soll. Es würde wahrscheinlich zu deutlich werden, dass es ungerecht ist, wenn man konkrete Maßnahmen aufführt, die diese Revolution erfordert.

Was auch nie begründet wird ist, warum sexuelle Gewalt eine Sonderstellung einnehmen soll. Viele Leute haben Angst, wenn sie durch dunkle Gassen gehen, dass sie überfallen, ausgeraubt und schwer verletzt werden. Warum nicht auch für solche Taten die Unschuldsvermutung einschränken? Oder für Drogendealer und das organisierte Verbrechen? Warum nicht einfach die gesamte Mafia verhaften und alle, bei denen man es eh weiß, dass sie ihr Geld mit Unrecht verdienen? Sind tausende Drogentote und die Gewalt des organisierten Verbrechens nicht ein paar Opfer wert?

Es ist immer wieder erstaunlich, dass gerade Linke keine Angst davor haben, die Eingriffsbeschränkungen des Staates zu lockern. Es zeigt ein hohes Vertrauen, dass der Staat rechtmäßig handeln wird und Regelungen nicht mißbraucht. Es zeigt ein hohes Vertrauen, dass politische Gegner das nicht ausnutzen werden, um sich Gegnern zu entledigen. Es zeigt natürlich auch ein geringes Geschichtswissen über rechte und linke Regime.

Tatsächlich aber scheint mir das Problem auch nicht lösbar. Sexuelle Belästigung hört nicht auf, wenn die Regeln verschärft werden. Sie entsteht nicht, weil Männer Frauen unterdrücken, sondern weil Männer eher den Wunsch nach casual Sex mit vielen jungen und attraktiven Frauen haben und auch, weil Berührungen ein kritischer Punkt beim Übergang zu mehr sind. Wie man diesen Punkt herbeiführt, ohne das man belästigt, das ist etwas schwieriges, was eben viele Männer unbeholfen machen, einige natürlich auch in voller Kenntnis der Übergriffigkeit, einfach weil es eine enorme Abkürzung ist. Wenn sie positiv darauf reagiert, dass man sie am Knie berührt, dann ist man eben einen ganz entscheidenden Schritt weiter. Das ist eine Feststellung, keine Rechtfertigung. Für sie wiederum stellt sich die Frage, ob es ihr überhaupt eine zeitaufwändige Reaktion wert ist. Die Berührung an sich geht ja dadurch nicht weg und es kann Arbeit und Unannehmlichkeiten machen, dass zu verfolgen. Ich hatte hier schon mal eine spieltheoretische Betrachtung für beide gemacht.