Eine Replik auf: Vincent-Immanuel Herr „Liebe Männer Europas, wir müssen reden!“ (Gastartikel)

Dies ist ein Gastartikel von Teardown

Der gesellschaftliche Diskurs wird zunehmend unter dem plakativen Begriff des „postfaktischen Zeitalters“ diskutiert. Zentraler Begriff in dieser Debatte ist die „Echokammer“. Meinungen werden nur noch innerhalb eines selbstselektierten homogenen Raums zugelassen. Innerhalb dieses Raums bekommt man nur das zu hören, was man selbst auch sagt, wie es mit dem Ausruf in einem Tal vergleichbar ist. Genau wie beim Echo in einem Berg-Tal scheint es zwar eine bestätigende Antwort zu geben, doch im Zeitverlauf wird es still und wenn man erneut hineinruft, erhält man wieder nur dieselbe bestätigende Antwort. Das Echo ist aber nur die Simulation einer Antwort, ein Gespräch findet nicht statt. So tritt eine verzerrte Wahrnehmung ein, weil anderslautende Meinungen oder Ideen ignoriert und Fakten gar nicht oder falsch interpretiert werden. Ein tatsächlicher Austausch von Meinungen ist in einer „Echokammer“ nicht möglich, da jede hier stattfindende Debatte entlang autoritären synchroneren Mechanismen folgt. Die Debatte innerhalb der Kammer dient nicht dem Austausch, sondern der Bestätigung des Gesagten. Jede Abweichung ist zu vermeiden und die Ablehnung des Gesagten von Menschen außerhalb der Kammer wird als Bestätigung für die Richtigkeit der Aussage gewertet. Es ist offensichtlich, dass unter solchen Voraussetzungen die Qualität der Willensbildung abnimmt. In der Folge entwickelt sich die wahrgenommene Wirklichkeit innerhalb des Schutzraums und dessen, was Menschen außerhalb dieses Schutzareals erfahren immer weiter auseinander. Deutlich sichtbar werden diese Regelmechanismen immer, wenn Insassen der „Echokammer“ ihren Schutzraum verlassen, um ein Gespräch mit dem Anderen suchen.

An einem neuen Aufruf des „Aktivisten, Feministen, Europäer“ (Eigenbezeichnung) Vincent-Immanuel Herr an „die Männer Europas“ lassen sich die Unfähigkeit zu einem redlichen und respektvollen Diskurs beispielhaft explizieren. An diesem offenen Brief zeigt sich, wie weit radikalfeministische Interpretationen der Wirklichkeit von der Lebenserfahrung der Menschen abweichen. Außerdem zeigt sich, dass die Debatte im Schutzraum zu einem hohen Qualitätsverlust der Rhetorik, Sorgfalt und Argumentationsführung führt, was augenscheinlich ist, wenn niemand mehr ernsthaft Gesagtes in Frage stellt.

“Liebe Männer Europas, wir müssen reden!“

Die Texte Immanuel Kants zeichnen sich dadurch aus, dass der Königsberger Philosoph stets seinen zentralen Gedanken in den ersten Satz schrieb. Jeder folgende Satz und jede folgende Bücherseite war nur noch eine Begründung dessen, was sich bereits im ersten Satz manifestierte. Beim Namensvetter Immanuel-Vincent Herr ist es genau umgekehrt. In seinem ersten Satz zeigt sich, worum es im Folgenden genau nicht gehen wird. Der Text ist, wie im Folgenden dargelegt wird, kein Gespräch, sondern eine Inszenierung dessen. Bei Immanuel-Vincent Herrs erstem Text dieser Art war es ebenso. Der Text begründete eben nicht, warum Deutschland mehr Feministen brauchen würde. Allenfalls und mit Wohlwollen begründete der Autor, warum man sich in Deutschland für Gleichberechtigung einsetzen sollte.

Es stellt sich nun die Frage, warum sich der Autor die Mühe macht, ein Gespräch mit europäischen Männern zu inszenieren, und einen offenen Brief zu schreiben. Einen Hinweis auf die Antwort findet sich in dem Adressatenkreis des Twitterposts, denen der Autor seinen Text präsentierte:

Manuela Schwesig (Bundesfrauenministerin), Henrike von Platen (Lobbyistin, Business Professional Women), Alexandra Borchardt (Redaktionsleiterin, Süddeutsche Plan W – Frauen verändern die Wirtschaft), Kristina Lunz (Lobbyistin und Beraterin von UN Women), Teresa Bücker (Redaktionsleiterin, Edition F), Katrin Rönicke (feministische Journalistin) und Robert Franken (Lobbyist, Male Feminists Europe) sowie die Accounts von „UN Woman“, „Edition F“ und „Netzfeminismus“.

Twitteraccounts von Männerechtlern, Autoren und Blogger außerhalb des Feminismus fehlen vollständig. Und mit dem feministischen Aktivisten Robert Franken ist auch nur ein Mann unter den Adressaten des Briefs an „die europäischen Männer“. Die Antwort nach der Motivation für diesen Text ist somit eindeutig zu geben: Es handelt sich hierbei um ein Bewerbungsschreiben des Autoren. Er inszeniert ein Gespräch mit den „europäischen Männern“ um seine richtige Gesinnung vorzuführen und sich für Folgeaufträge zu empfehlen. Es ist naheliegend als feministischer Aktivist und Europäer ein ökonomisches Interesse daran zu haben, dass man von feministischen Journalistinnen, Ministerien unter feministischer Führung und feministischen Völkerrechtsorganisationen wahrgenommen wird. Unter dieser Prämisse wird in der Folge der gesamte Text analysiert.

“In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? In einer gleichberechtigten oder in einer rückständigen? Wollen wir in einem Europa der Chancen oder in einem Europa der Privilegien leben?“

Natürlich fällt den meisten von uns die Beantwortung dieser Frage leicht. Natürlich wählen wir die Gesellschaft, in der Gerechtigkeit und Fairness herrscht. Nicht nur, weil es moralisch oder philosophisch richtig wäre, sondern einfach, weil wir selber auch nicht benachteiligt werden wollen. Wir erwarten eine faire Chance. Wir erwarten, dass man uns nach unserem Einsatz, unseren Ideen und unserer Leistung bewertet, nicht danach, wo wir herkommen, wie wir aussehen oder welchen Namen wir haben. Alles andere ist Diskriminierung und nicht fair.“

Die klassische Rhetorik bezeichnet diesen Abschnitt als das exordium. Mit einigen einleitenden Floskeln möchte der Autor sich die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen des Lesers sichern. Und ja. Wer könnte auch den Worten des Autors widersprechen? Niemand möchte aufgrund seiner Herkunft, seiner Meinung, seines äußeren Erscheinungsbildes oder seines Namens diskriminiert werden. Warum jedoch fehlt hier mit dem „Geschlecht“ eine für Feministen so entscheidende Diskriminierungskategorie? Die Antwort darauf findet sich im nächsten Abschnitt:

“Die weitverbreitetste Form von Diskriminierung in Europa (und weltweit) ist Sexismus, die Benachteiligung von Mädchen und Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Dabei kann man generell sagen, dass es Frauen in Europa besser geht und sie weniger Unterdrückung erfahren, als in vielen anderen Teilen der Welt. In den meisten Europäischen Ländern ist es nicht üblich, weibliche Föten aufgrund ihres Geschlechts schon vor der Geburt abzutreiben. Sogenannte Ehrenmorde, also das Töten eines weiblichen Familienmitglieds aufgrund einer angeblichen Beschädigung der Familienehre, sind zum Glück ebenso selten wie Massenvergewaltigungen. Die Grundrechte der Europäischen Union garantieren Frauen die gleichen Rechte wie Männer. Natürlich dürfen Frauen wählen gehen, Auto fahren, eine Firma leiten oder Präsidentin werden. Heißt das, wir können uns entspannt zurücklehnen? Ganz sicher nicht! Denn nur, weil EU Länder im weltweiten Vergleich gut abschneiden, heißt das nicht, dass wir absolut gut abschneiden. Denn auch in Europa haben wir es mit jeder Menge Sexismus zu tun. Raewyn Connell analysierte hegemoniale Männlichkeit ebenso wie etwas, was sie als „patriarchalische Dividende“ bezeichnet hat. Männer können von Geburt an selbstverständlich von Privilegien ausgehen, die ihnen ihre Kulturen seit Jahrtausenden zuschreiben. Diese Dividende streichen Männer auch in Europa ein.“

Die bereits im vorhergehenden exordium sichtbare sprachliche Herausstellung der Diskriminierung aufgrund von Geschlecht durch Trennung dieser von anderen Diskriminierungskategorien wird in der Erläuterung des Sachverhalts nun auch inhaltlich deutlich. Der Autor folgt hierbei zwei klassischen radikalfeministischen Narrativen die eine Desinformation einrahmen:

  • Männer könnten keine sexistische Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts erfahren. Warum das so sei oder woran sich das zeigt, erfährt der lesende europäische Mann dabei selbstredend nicht. Der Satz steht einfach so da und ich runzelte zum ersten Mal die Stirn. Es handelt sich um ein Argument qua Definition und somit letztlich um eine Tautologie. Der Feminist erklärt „europäischen Männern“, dass sie durch Sexismus gar nicht diskriminiert werden, weil Feministen Sexismus so definiert haben. Außerdem ist bemerkenswert, dass der Autor Sexismus als weitverbreitetste Form der Diskriminierung auf Welt definiert, ohne auch hierfür einen Beleg zu liefern. Aus meiner Sicht als Demokrat ist nämlich die weitverbreitetste Diskriminierung weltweit die Abwesenheit von Demokratie, also das Zulassen von Meinungsvielfalt. Eine Diskriminierungskategorie, die der Autor eben erst beschrieb und gedanklich schon wieder vergessen hat.
  • Mit Blick auf die „außereuropäischen Männer“, die noch stärker Frauen (und nur Frauen, s.o.) unterdrücken würden, behauptet der Autor: Ehrenmorde bezeichnen das Töten von Frauen aufgrund der Beschädigung der Familienehre. Diese Behauptung ist falsch. Denn auch Männer werden aufgrund der Familienehre getötet, in Deutschland waren zwischen 1996 und 2005 von 109 bekannten Ehrenmorden 43 männliche Opfer zu verzeichnen. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass etwa 30 Prozent aller Ehrenmorde an Männern begangen werden. Sie werden umgebracht, weil sie schwul sind, von der Familie ungewünschte Sexualpartner der Frauen sind oder sogar weil sie sich weigern ihre weiblichen Familienmitglieder zu ermorden.
  • Bei dem zweiten radikalfeministischen Konzept, welches der Autor neben dem feministischen Sexismus-Begriff einführt, wird noch deutlicher, wie weit sich der Autor mittlerweile von seiner Zielgruppe entfernt hat. Er führt den Begriff der „hegemonialen Männlichkeit“ mit dem Konzept der „patriarchalen Dividende“ ein, ohne auch nur eins der beiden Schlagworte zu erklären. Der Leser bleibt zurück mit der belegfreien Aussage, dass Männer „selbstverständlich von Geburt an von Privilegien ausgehen“ können. Dazu später mehr. Da der Autor seinen Brief sorgsam nach den Kategorien klassischer Rhetorik aufgebaut hat, halte ich es für ausgeschlossen, dass er einen solchen schwerwiegenden rhetorischen Fehler macht, Dinge seinem Zielpublikum nicht zu erläutern. Ich kenne aber diese Vorgehensweise aus meiner beruflichen Tätigkeit. Im Marketingbereich würde man das, was der Autor macht als „Buzzword-Dropping“ bezeichnen. Es werden komplexe Vorgänge auf ein Wort zusammengestapft und egal ob man es verstanden hat oder nicht, in einer Debatte fallengelassen. Man signalisiert so Kompetenz oder Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kreis. Das Stichwort ist also das Signalisieren einer Gesinnung. Der Autor weiß, dass kein „normaler Mann“ seinen Brief lesen wird und er ist auch gar nicht daran interessiert, dass normale Männer ihn verstehen. Diejenigen die er erreichen will (siehe oben), verstehen was er meint, nämlich seine Zugehörigkeit zur Peergroup. Wir haben hier lupenreine autoritäre Herrschaftssprache in feministischer Anwendung.

Anschließend leitet der Autor den eigentlich argumentativen Teil seines Textes ein. Er gliedert ihn (In der Rhetorik propositio genannt) mit Hilfe der geschlechtlichen Diskriminierungsdimensionen Wissen, Geld, Macht, Zeit, Gewalt, Gesundheit und Arbeit. Diese werden ihm so durch den europäischen Gender Equality Index vorgegeben:

„Tatsächlich zeigt der Gender Equality Index, dass Frauen in der EU im Durchschnitt erstaunlicherweise erst etwas mehr als die Hälfte (52,9 Prozent) der Gleichberechtigung erreicht haben – also des Gleichstandes mit ihren männlichen Zeitgenossen. Die Studie untersucht die Faktoren Wissen, Geld, Macht, Zeit, Gewalt, Gesundheit und Arbeit im Vergleich zu Männern. In der Schule oder der Uni würden wir für 53 Prozent der richtigen Antworten mit Glück noch eine fünf bekommen. In keinem einzigen Land der EU (oder der Welt) sind Frauen tatsächlich selbstverständlich genauso viel wert, unterstützt, ausgestattet wie Männer.“

Ich weiß nicht, ob man an der Universität mit 53 Prozent richtiger Antworten eine Klausur besteht. Was ich aber weiß: Ein Professor wird garantiert eine Hausarbeit nicht für gut bewerten, wenn der Student darin zeigt, dass er seine Quellen nicht gelesen hat. Denn genau das hat gerade der Autor getan, wie meine kurze Quellenrecherche ergab.

Der „Gender Equality Index“ des Europäischen Instituts für Gleichstellung kann hier eingesehen werden. Diese Erhebung bildet Gleichstellung entlang eines Absolutwertes (!) von 1 (absolute Ungleichheit) und 100 Prozent (vollständige Gleichstellung) der Geschlechter ab. Der Index wertet also gleichrangig in beide Richtungen und misst auch Ungleichheit zu Lasten von Männern. Damit unterscheidet sich die methodische Vorgehensweise etwa von dem Gender Inequality Index des World Economic Forums. Dieser Index misst die Parität von Frauen zu Männern und bewertet diese mit höchstens 1, sobald mindestens (!) genauso viele Frauen wie Männer einen Wert erreichen. Diese Konstruktion des GII-Index führt zu der paradoxen Situation, dass ein Staat in dem 100 Prozent der Studenten Frauen sind, den Gleichstellungsidealwert bei höherer Bildung von 1 erhält.

Die richtige Interpretation der 52,9 Prozent im zitierten Gender Equality Index wäre also: Frauen UND Männer sind etwa zur Hälfte in den gemessenen Kategorien gleichgestellt. Das heißt aber eben NICHT, dass nur Frauen benachteiligt seien. So zeigt sich z.B. bei der Bildung, dass in Schweden und Großbritannien prozentual etwa gleich viele Frauen tertiäre Bildung genossen haben, der Index aber für Großbritannien 85 Prozent Gleichstellung berichtet, während Schweden nur etwa 63 Prozent erreicht. Der Hintergrund: In Schweden kommen auf drei Frauen mit Universitätsausbildung nur zwei Männer, während in Großbritannien jeweils beide Geschlechter etwa zu gleichen Anteilen vertreten sind.

Kurzer Einschub: Ich persönlich halte solche Genderindizes für totalen Humbug. Sie werden nur produziert, damit Menschen wie der Autor eine griffige Zahl präsentieren können. Kritikpunkte:

  • In Schweden müssen z.B. auch Krankenpfleger studieren, in Deutschland nicht. Wie vergleichbar sind also die schwedischen mit deutschen Werten, wo in Schweden in den Universitäten mehr Frauen studieren (Sozialbereich) und in Deutschland mehr Männer (Technischer Bereich)?
  • Warum misst man nur Hochschulbildung? Würde man wirklich Gleichstellung in Bildungsfragen messen wollen, müsste man auch Primar- und Sekundärbildung vergleichen. Interessanterweise zeigt sich ja hier eben, dass am unteren Ende Jungen überrepräsentiert sind. Aber wie der Autor schon zeigt, die Gleichstellungsfrage wird immer nur aus der Perspektive von Frauen diskutiert. Denn Männer können gar nicht sexistisch diskriminiert werden. Männer haben von Geburt an ihre Privilegien, auf die sie sich verlassen können. – Verhältnisse zueinander sagen nichts über die tatsächliche Qualität eines Merkmals. Ein Beispiel aus dem Gender Equality Index: Beim Thema Freizeit haben Männer einen kleinen Vorsprung. Hier sinken nun die gemessenen Werte für beide Geschlechter seit 2006, nur eben auch für Männer schneller als bei Frauen. In der Folge wird eine größere Gleichstellung gemessen, aber sowohl Frauen als auch Männer haben heutzutage absolut weniger Freizeit als vor zehn Jahren. Gleichstellung als Beruhigungspille für die freizeitlosen Arbeitssklaven?
  • Welche Parameter wählt man für einen Index aus? Hier ist der statistischen Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Beim Thema „Power“ führt der methodische Apparat der o.g. Studie die Faktoren political, social und economic auf. Die Politische Macht wird an Geschlechterverhältnissen im Parlament gemessen, ökonomische Macht anhand von Vorständen in Unternehmen. Für die soziale Macht wird kein Parameter identifiziert. Warum? Wäre nicht z.B. die Verteilung von Sorgerechtsentscheidungen ein Fall für soziale Macht? Was würde wohl bei dieser Messung rauskommen?
  • Ein letzter Punkt, Deutschland würde wie die Studienautoren berichten, einen gewaltigen Sprung in der Gleichstellung machen, wenn Frauen mehr in Parlamenten und Unternehmensvorständen vertreten wären. Der deutsche Indexwert könnte sich leicht um fast 15 Prozentpunkte erhöhen, wenn etwa 2.000-3.000 Frauen in die gewünschten Positionen kommen. Das zeigt deutlich: Gleichstellung ist ein Elitenthema.

Aber machen wir weiter im Text.

“Was aber bedeuten diese Zahlen im eigenen Leben? Ihr könnt es leicht herausfinden. Nehmt diesen Brief zum Anlass, um in eurem Umfeld, in der Familie oder im Freundeskreis, Frauen nach ihren Erfahrungen mit Sexismus zu fragen. Dann hört zu. Ich habe das gemacht und von haarsträubende Erlebnissen und Erfahrungen gehört: Frauen, die auf der Straße angefasst oder von Männern in Ecken gedrängt wurden. Frauen, denen zustehende Beförderungen verweigert wurden. Frauen, die lächerlich gemacht oder unterschätzt werden. Frauen, die gestalkt, verfolgt oder missbraucht wurden. Frauen, die genauso gut arbeiten wie Männer, aber schlechter bezahlt werden. Frauen, die in wichtigen Positionen sind, und als „Süße“ oder „Schätzchen“ degradiert werden. Ich war und bin schockiert, dies von den Frauen in meinem engsten Familien- und Freundeskreis zu hören. Die wiederum sagen, dass es keine Frau gibt, die nicht ein Erlebnis dieser Art vorbringen kann. All das sind keine Einzelfälle. Sie zeigen, wie die in der EU nur halb erreichte Gleichberechtigung unmittelbar im persönlichen Leben von Frauen und Mädchen wirksam ist. Daher, nehmt euch Zeit, hört zu, kommt ins Gespräch. Es wird euren Blick erneuern.“

Dieser Absatz ist das Kernargument des Autors, abgeleitet aus seiner falschen Interpretation eines Gleichstellungsindexes. Männer sollen Frauen nach ihren Erfahrungen fragen, wobei diese soweit definiert werden, dass natürlich jede einen solchen Fall berichten kann. Diese Vorgehensweise beschreibt eine weitere Rabulistik feministischer Rhetorik, die Begriffserweiterung ins Unkenntliche. Denn würde man Männer fragen, ob sie schon mal auf der Straße bedrängt wurden, schlechter bezahlt, nicht befördert, missbraucht, geschlagen, abfällig bezeichnet, unterschätzt oder gestalkt würde auch nahezu jeder ein Beispiel geben können.

Und ja, ich habe das was der Autor vorschlägt selbst getan und meine Freundin gefragt. Sie konnte mir von zwei Vorfällen berichten: Einmal begegnete sie in einem Berliner Park einem Exhibitionisten der sich vor ihr entblößte und einmal wurde sie und eine Freundin in Paris am Fernreisebahnhof von einer Gruppe französisch-arabischer Jungs bedrängt. Im ersten Fall war sie amüsiert, im zweiten Fall verängstigt. Welcher Erkenntniswert liegt dem nun zugrunde? Und vor allem, was sollte ich als „europäischer Mann“ dagegen tun? Soll ich meine Freundin stetig begleiten, damit ich sie beschützen kann, wenn ihr so etwas passiert? Wobei das wiederum an Verhaltensweisen außereuropäischer Männer erinnert. Das was der Autor hier macht ist ganz klassisch: Man ignoriert Lebenserfahrungen von Männern (privilegiert), entgrenzt Begriffe ins unermessliche und produziert so ein Horrorszenario und schließt dann aus der Verteilung aus die Grundgesamtheit und formuliert daraus einen Rechtfertigungsdruck gegenüber Männern. Stalking z.B. ist bei etwa 30.000 jährlich angezeigten Fällen in Deutschland kein Massenphänomen und betrifft im Übrigen in etwa 20 Prozent der Fälle auch Männer. Aber was sollen europäische Männer in Deutschland dagegen unternehmen? Was sollen 38 Millionen Männer gegen etwa 24.000 stalkende Männer ausrichten? Der Autor präsentiert hier eine Pseudolösung und appelliert letztlich an die klassische Geschlechterhierarchie, die er eigentlich vorgibt zu brechen: Männer sollen die Beschützer von Frauen sein. Erst wenn keine Frau mehr etwas berichten kann, dann sei Gleichberechtigung erreicht. Nach diesem Absatz habe ich mich ernsthaft gefragt, ob der Autor wirklich so kindlich naiv ist oder er tatsächlich lediglich seine reine Gesinnung signalisieren will.

„Es ist doch ein spannende Umstand, dass Europa als einziger Kontinent der Welt nach einer Frau benannt ist. Ein Ansporn für uns alle, solange wir nicht tatsächliche Gleichberechtigung erreicht haben – in unserem Leben, in unseren Köpfen, in unseren Gesellschaften. Stellt euch vor, was für ein Europa wir haben könnten, wenn wir einander nicht nach dem Geschlecht beurteilen und entsprechend unterschiedlich behandeln würden. Wenn die Anerkennung, die im persönlichen Alltag oft ganz normal ist – der Respekt und die Zuneigung zu unseren Schwestern, Müttern, Freundinnen, Grossmüttern, Patentanten, Cousinen – auch im größeren gesellschaftlichen Kontext gelten würde. Stellt euch vor, was wir zusammen erreichen könnten, wenn wir das volle Potential unseres Kontinents nutzen würden, und nicht nur das halbe. Aus diesen Grund schreibe ich euch heute von Mann zu Mann. Als Männer im 21. Jahrhundert haben wir eine kollektive Verantwortung, nicht wegzuschauen, sondern aktiver Teil eines besseren Europas zu werden. Echte Männer degradieren Frauen nicht. Echte Männer belästigen Frauen nicht. Echte Männer schauen nicht weg. Daher: Werdet Mitstreiter für die Gleichberechtigung. Und das nicht für Frauen oder weil wir es besser könnten (das wäre ja die Bevormundung, die wir gerade nicht wollen), sondern zusammen mit Frauen, Seite an Seite, für eine bessere Zukunft in Europa“

Der letzte Teil formuliert das Pathos mit dem zum Handeln aufgerufen wird. Zunächst wird aus dem Umstand, dass der Kontinent Europa nach einer Geliebten des Zeus benannt wurde, ein Handlungszwang für Männer abgeleitet. Das klingt gut, ist aber reichlich absurd. Schlimmer wiegt hingegen die anschließende Übergriffigkeit. Eine Übergriffigkeit wie sie ebenfalls typisch ist für den Gegenwartsfeminismus. Der Autor behauptet, „wir“ (ob er damit nur die europäischen Männer meint oder auch Frauen bleibt unklar) würden einander nach dem Geschlecht beurteilen und unterschiedlich behandeln. Damit impliziert er zweierlei. Einerseits, dass Männer sich untereinander besser behandeln würden, als Frauen und andererseits das „wir“ das überhaupt tun. Das ist eine Beschämung, die ich entschieden zurückweise. Denn ich habe noch nie eine Frau gestalkt, missbraucht, geschlagen, bedrängt, nicht befördert, schlechter bezahlt etc. pp. Die Beschämung resultiert aus dem Rechtfertigungsdruck, den der Autor einfach so allen „europäischen Männern“ auferlegt. Auch frage ich mich in welcher Realität der Autor lebt, wenn er die Beziehungen von Männern untereinander mit dem Respekt und der Liebe von Männern zu ihren Frauen, Müttern, Schwestern und Töchtern implizit gleichsetzt. Selbstverständlich ist jedes Familienmitglied einem näher, als eine fremde Frau oder ein fremder Mann. Im letzten Absatz schließt der Autor mit einem Appell an „echte Männer“. Die so der Autor, würden Frauen nicht abwerten und misshandeln. Wie absurd dieser Aufruf des Autors ist wird deutlich, wenn man ihn geschlechtsneutral formuliert: Echte Menschen belästigen Menschen nicht. Echte Menschen schauen nicht weg. Echte Menschen degradieren nicht. Denn Anstand hat kein Geschlecht. Und schon gar nicht verfügen Frauen über diesen qua weiblicher Geschlechtszugehörigkeit.

Der offene Brief von Immanuel-Vincent Herr zeigt in verdichtet komprimierter Form das Problem des gegenwärtigen Diskurses über Fragen der Gleichberechtigung auf. In der veröffentlichen Meinung ist dieser die Simulation eines Meinungsaustauschs. Er ist getrieben von den Interessen einer weitvernetzten feministischen Interessensvertretung, die nur vorgibt für einen Ausgleich zwischen den Geschlechtern zu sorgen. Das feministische Kalkül ist letztlich auf eine Befriedigung eigener ökonomischer und sozialpsychologischer Interessen zurückzuführen. Ökonomische Interessen zeigen sich an dem Drang staatliche oder halbstaatliche Versorgungspositionen in Behörden, Ministerien, Bildungseinrichtungen oder Stiftungen und Vereine zu sichern. Sozialpsychologisch zielen Feministen auf eine Bestätigung der eigenen Person durch etwas so profanem wie die Geschlechtszugehörigkeit, sei es durch die gegenseitige Vergewisserung das Frauen immer nur eine Opferlage abbilden und dabei ja eigentlich Männern intellektuell oder emotional überlegen seien. Für feministische Männer wie Immanuel-Vincent Heer mag es ein solches Motiv auch geben, indem sie durch Signalisieren ihres Wohlwollens und der Übernahme feministischer Ideologie einen der besseren Plätze in der feministischen Geschlechterhierarchie einnehmen können. Diese ist wie die Analyse des offenen Briefs zeigt offensichtlich und geradezu grotesk ist es, wenn der Autor dazu auffordert, Menschen nicht nach ihrem Geschlecht zu beurteilen. Denn genau dies tut er vom ersten bis zum letzten Wort.

Eine Meinungsvielfalt und eine tatsächliche Lageverbesserung kann so natürlich nicht stattfinden. Entlang klar hierarchisierter Täter-OpferDichotomien werden unter Ausschluss männerrechtlich interessierter Kreise Theoreme und Axiome gepflegt, die auf eine objektive feministische Hegemonie in der Debatte zielen. Jeder Widerspruch, jedes anderslautende Faktum wird ausgeblendet oder marginalisiert. Feministische Interpretationen zielen daher nicht auf ein besseres Verständnis der Wirklichkeit, sondern auf die Verstetigung des einseitigen feministischen Opfernarrativ, mit dessen in einer sozialstaatlichen Demokratie finanzielle Ressourcen und Aufmerksamkeit gesichert werden.

Und doch haben Feministen ein großes Problem, das sich immer genau dann zeigt, wenn sie die in der Echokammer kultivierten Narrative an die Öffentlichkeit tragen. Ich habe an einem konkreten Beispiel exemplarisch aufgezeigt, welche geringe Qualität feministische Beiträge mittlerweile in der Debatte haben. Hiervon bildet der vorliegende offene Brief nur ein krasses Beispiel. Die massiven Recherchemängel, Logikfehler oder Fehlinformationen, die auch der Autor in seinem offenen Brief zeigte, sind daher kein Einzelfall. Sie stehen exemplarisch für die Qualität feministischer Meinungsbeiträge, Studien oder Konzepte. Mittlerweile werden täglich von feministisch identifizierenden Medienschaffenden, Politikern und Lobbyisten solche schlechten Debattenbeiträge und Analysen produziert. Doch die eigene Argumentation wird nicht besser, wenn man sie in einem sicheren Raum einübt, sondern sie wird griffiger, wenn man sich in einem gleichberechtigten Austausch mit dem Anderen begibt. Mit sozialen Medien und dem Aufkommen neuer politischer Kräfte in Deutschland findet eine neue Polarisierung der Geschlechterdebatte statt. Doch genau diese führt nicht zu einer Qualitätsverbesserung feministischer Argumentation, da Gegenpositionen sprichwörtlich abgeblockt werden.

Je hermetischer Feministen sich einschließen, desto eher führt dies zu einer Pluralisierung der Debatte. Und diese wäre kein „Backlash“, sondern der Aufbruch in eine wirklich gleichberechtigte Geschlechterdebatte.