Call out Culture und Nicht-Gut-Genug-Aktivismus

Bei Kleinerdrei geht es um die „Call Out Culture„, die dort wie folgt definiert wird:

„Call Out Culture“ (call somebody out on something: jemanden wegen etwas zur Rede stellen) beschreibt das Phänomen, Menschen öffentlich auf ihr problematisches Verhalten bzw. Aussagen hinzuweisen. Dies ist wichtig: Wenn ich einen Fehler mache und durch unbedachte Tweets oder dergleichen jemanden verletze, möchte ich gerne darauf aufmerksam gemacht werden, dass das nicht in Ordnung war. Das gibt mir die Möglichkeit, aus meinem Verhalten zu lernen und um Entschuldigung zu bitten. Andererseits kann Calling Out aber auch von valider, sachlicher Kritik zu einem Shitstorm und Cybermobbing umschlagen.

„Call out Culture“ ist meines Erachtens nach ein wichtiger Bestandteil des (Netz-)Feminismus, weil in diesem Virtue Signalling und „Noch richtiger sein“ im Rahmen des „Nicht gut genug Aktivismus“ hohe Werte in der Auseinandersetzung sind. Es steht auch dafür, dass man nicht etwa darüber diskutiert, was denn nun richtig ist oder freundlich anfragt, sondern das man eine Diskriminierung anprangert.

Ab wann ist die Grenze zum Cybermobbing überschritten? Innerhalb feministischer Kreise wird schon länger darüber diskutiert, inwiefern die Call Out Culture Schaden anrichtet. Der Gedanke hinter dem Akt des Calling Out ist eigentlich nicht schlecht: Wir alle haben diskriminierende Denkmuster verinnerlicht und sie zu entlernen ist ein anstrengender, langer Prozess, bei dem man manchmal in die richtige Richtung gestupst werden muss. Es ist oft schwer, sein eigenes Fehlverhalten als solches wahrzunehmen. Es ist nicht einfach, sich einzugestehen, dass man zum Beispiel als aufgeklärte*r, tolerante*r, vorurteilsfreie*r (so zumindest das Selbstbild) Weiße*r Rassismus internalisiert hat. Es geschieht aber immer wieder, dass dieser sinnvolle Grundgedanke in gegenseitiges Fertigmachen umkippt.

Klassischer Feminismus. Dass das nervige daran ist, dass jemand vollkommen überzogene Vorstellungen von Diskriminierung hat und sie anspricht darf man nicht sagen. Man muss natürlich betonen, dass jeder irgendwo diskriminiert und dass das natürlich angeprangert werden muss. Dank der Definitionsmacht des Betroffenen ist das in vielen Fällen zwingend: Eine Weiße, die von einem PoC vorgehalten bekommt, dass sie etwas rassistisches gemacht hat, hat das hinzunehmen und nicht etwa anzuführen, dass die mal lieber halblang machen soll und hier übertreibt. Demnach muss ein solcher Artikel äußerst behutsam geschrieben werden, denn jeder Verdacht, dass man sich etwa gegen den Vorwurf der Diskriminierung wehren will oder gar meint, dass man sich wegen kleinerer Vorfälle nicht so aufregen sollte, wäre fatal.

Das sieht man auch am Folgenden:

Die Aussage, dass Gewaltandrohungen kein legitimer Ausdruck von Kritik sind, sollte nicht unter tone policing fallen. Es ist vollkommen okay, wütend zu sein, wenn jemand durch diskriminierende Handlungen auffällt, und dies auch auszudrücken. Dass sich Enttäuschung zur Wut gesellt, wenn problematische Aussagen von jemandem kommen, von dem*der man sich Besseres erhofft hat, ist mehr als verständlich. Laci Green, eine Youtuberin, die sich in ihrer Videoreihe Sex+ unter anderem mit Sexualität und Feminismus auseinandersetzt, wurde vor einigen Jahren bedroht, weil sie in einem älteren Video einen transfeindlichen Ausdruck verwendet hat. Nachdem sie sich dafür entschuldigt und das Video gelöscht hatte, hörten die Drohungen nicht auf. Warum? Was ist der Zweck von Calling Out, wenn es nicht aufhört, nachdem die betroffene Person um Verzeihung gebeten und offensichtlich aus ihrem Fehlverhalten gelernt hat, sondern sich zu Hetze steigert?

Es soll also nicht darum gehen, dass jemand sich nicht über angenommene Diskriminierung aufregen darf und das auch wütend und ohne das im Verhältnis zu setzen. Das alles wäre eben Abwehr von Kritik und Verteidigung des diskriminierenden Verhaltens. Es gibt keine kleinen oder unwichtigen Vorfälle, weil natürlich jede kleine Migroaggression Teil eines Systems ist das man ansonsten damit verteidigt.

Allenfalls will man anmerken, dass man doch bitte die Kritik stoppen könne, wenn der andere es eingesehen hat und „um Verzeihung gebeten hat“ (klingt ganz schön dramatisch). Was sie verkennt: Es gibt keine Pflicht zu Stoppen, weil es dem Diskriminierten natürlich zusteht zu entscheiden, wie lange er unter dem Fehler leidet. Wer einmal nicht hinreichend aufgepaßt hat, der war eben unsensibel und hat kein Recht darauf, dass man ihm das nicht mehr vorhält. Denn es ist ja auch nur Ausdruck der jeweiligen Privilegien, die auch nach wie vor fortbestehen.

Calling Out wird dann  zu einer Performance, zu einem Wettbewerb der Unfehlbarkeit.

Da hat sie den „Nicht gut Genug-Aktivismus“ und das damit verbundene „Race to the Bottom“ im Prinzip gut verstanden. Sie meint nur, dass das nicht ein wesentlicher Bestandteil der Theorien ist, welche eben vorsehen, dass jeder Vorfall unentschuldbar ist.

An sich bietet Calling Out/Being Called Out auch die Möglichkeit eines Dialoges, eines Nachfragens und Dazulernens. Zwei Hindernisse machen das aber schwierig. Zunächst einmal steht die natürliche Abwehrhaltung des*der Empfänger*in der Kritik einem Lernprozess im Weg. „Ich soll einen Fehler gemacht haben?“ Doch selbst wenn die Einsicht da ist, wird oftmals eine Entschuldigung nicht akzeptiert. Im Fall von Prominenten ist es sogar so, dass alle für problematisch befundenen Dinge, die sie getan haben, auf tumblr gesammelt werden. Dass Fehler normal sind und Menschen sich ändern können, wird meist völlig ignoriert.

Den Wert des weiteren Vorhaltens im Virtue Signalling hat die Autorin eben noch nicht verstanden. Um so länger man derjenigen die Verletzung vorhält um so deutlicher kann man machen, dass man solche Verfehlungen nicht auf die leichte Schulter nimmt. Zudem muss derjenige ja auch nicht nur den einzelnen Fehler korrigieren. Der Fehler ist Ausdruck des Privilegs von zB Laci Green als Nichttransexuelle und das bleibt sie eben weiterhin, so dass man sie auch an ihr Privileg erinnern kann.

Es muss auch dringend darüber geredet werden, welche RolleMachtstrukturen bei der Call Out Culture spielen. Jon Ronson hat das in seinem Buch „So You’ve Been Publicly Shamed“ leider nicht hinbekommen. Warum erhalten Frauen* andere Arten von Drohungen als Männer*? Wie sind Call Out Culture und Rassismus, Ableismus, Klassismus sowie Heterosexismus miteinander verwoben? Wie geht man am besten damit um, wenn man auf problematisches Verhalten angesprochen wurde? Es macht zudem einen gewaltigen Unterschied, ob der Call Out sich an einen Konzern bzw. eine bekannte Person oder Teenager auf tumblr und Co-Aktivist*innen richtet. Einzelne Personen vor einem großen Publikum bloßzustellen – was z.B. durch eine “ich stelle meiner Mention einen Punkt voran, damit meine Tausende Follower mitbekommen, wie ich dich gerade zur Sau mache”-Reply leicht geschieht – bringt eine nicht zu unterschätzende Verantwortung mit sich. Was definitiv passieren muss: Die Anspruchshaltung (relativ) privilegierter Menschen gegenüber Menschen aus marginalisierten Gruppen muss weg. Natürlich ist es hilfreich, wenn jemand nicht nur kritisiert, sondern auch gleich erklärt, was genau problematisch war – diese Person ist aber nicht dazu verpflichtet. Auf einer Erklärung zu bestehen, obwohl man sich anderweitig informieren könnte, ist inakzeptabel. Niemand schuldet uns seine*ihre Zeit.

Hier leitet sie im Prinzip zu einem neuen Thema über und führt an, dass Call outs sinnvoll sind im Kampf gegen eine „Anspruchshaltung“ die sie bekämpfen will. Und das man das natürlich nicht rechtfertigen muss, sondern theoretisch der reine Vorhalt, dass etwas diskriminierend sei ausreichen müsste. Das aus dieser Haltung, dem Kampf gegen die Anspruchshaltung und das fehlende Erfordnis zu begründen und zu debattieren, einige der Probleme stammen, die sie oben anprangert, versteht sie leider nicht.