Tag: 18. August 2016
„Geste der Hilflosigkeit weißer alter Männer“
Die Süddeutsche enthielt gestern mal wieder interessante Feststellungen:
Aggressiv, vulgär, obszön. Der Finger, wie ihn Briten und Amerikaner knapp und deutlich nennen, ist eine Beleidigung, auch im juristischen Sinn, es drohen Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Seit der Antike ist er ein beliebtes Mittel, um seinem Gegenüber die eigene Geringschätzung zu verdeutlichen. Über die Kulturgeschichte dieser Schmähgeste hat der Romanistikprofessor Reinhard Krüger ein Buch geschrieben. Die Wirksamkeit des „Stinkefingers“ erklärt er sich über die klare Signalwirkung der Geste als sexuelles Symbol. Der ausgestreckte Mittelfinger stellt den erigierten Penis dar, es geht – wie so oft – um Dominanz, um die Frage, wer den größeren hat. Ein Vergleich der Stellvertreter also, der schon bei den römischen Gladiatoren beliebt war.
Das der Finger den Penis entspricht scheint eine der üblichen Deutungen zu sein, die so auch in der Wikipedia zu finden ist. Sexuelles und obszönes bot sich schon immer an für Beleidigungen, weswegen „Fick dich“ wohl auch die Worte sind, die heute mit den Zeigefinger gern verbunden werden.
Interessanter finde ich dann die folgende Deutung:
Der Mittelfinger ist eine eindeutig sexualisierte Geste. Der Mittelfinger ist auch eine eindeutig männliche Geste. Sicher, Hollywood-Star Elizabeth Taylor grüßte aufdringliche Paparazzi mit ausgestrecktem Mittelfinger und auch Rapperin M.I.A. unterlegt ihre politischen Botschaften gerne mit eindeutigen Fingerspielen. Aber erlebt man außerhalb der Kunstszene wirklich viele Frauen, die sich dieser Geste bedienen? Nein, denn der „Stinkefinger“ ist nicht mehr nur eine aggressive Dominanzgeste. Er ist in seiner postmodernen Variante vielmehr eine Geste der Hilflosigkeit. Eine Geste der Hilflosigkeit weißer alter Männer.
Ich finde es faszinierend wie hier auf eine völlig unnötige Weise und auch quasi ohne Argumente eine Abwertung des Lieblingsfeindbildes erfolgt, des „weißen alten Mannes“. Als Argument – bei bereits erheblicher Dehnung dieses Wortes – wird dabei lediglich angeführt, dass Frauen diese Geste weniger verwenden. Frauen mögen vielleicht allgemein weniger zu obszöner Sprache neigen, aber ist das für diese Reduzierung auf Männer ein Argument? Für die frechere rebellische Frau ist der „Stinkefinger“ wahrscheinlich sogar eher die Geste der Wahl:
Ich finde es interessant, dass er eine Geste, die bei den antiken Griechen und Römern entstanden ist nunmehr einfach so zu einer weißen Geste erklärt, und auch, wie er darauf kommt, dass es eine Geste alter Männer ist wäre interessant: Üblicherweise dürften gerade Ältere die Geste für wesentlich unanständiger halten als jüngere und sie daher nicht verwenden.
Es ist insofern ein billiger Aufhänger, der dazu dient, Sigmar Gabriel, der eben ein „alter weißer Mann“ ist, abzuwerten. Und ihn dieser Gruppe zuzuordnen und die Geste mit dieser Gruppe in Verbindung zu bringen, dass scheint für den Autoren bereits alles an Abwertung zu enthalten:
Wer einem anderen den Mittelfinger zeigt, der hat keine Argumente mehr. Er distanziert sich ganz ironisch von einem Konflikt, er macht sich unangreifbar und ist doch eigentlich verzweifelt.
Wie er darauf kommt, dass das so sein muss, was sein Argument dafür ist, aus dem er seinen Schluss herleitet, dass legt er leider nicht dar: Es ergibt sich wahrscheinlich irgendwie aus dem Zusammenhang damit, dass Sigmar Gabriel eine Geste für alte weiße Männer verwendet, denn die haben eben keine Argumente mehr und sind verzweifelt. Das es einfach eine Geste ist, die Ablehnung signalisiert, auch weil Sigmar Gabriel schlicht deutlich machen wollte, dass er Nazis ablehnt, und kaum mit ihnen diskutieren wird, dass kommt anscheinend dem Autoren nicht in den Sinn. Man diese Geste von einem Politiker und ihre Angemessenheit sicherlich diskutieren, aber warum muss man von einem Signal der Ablehnung von Nazis dazu kommen, dass der sie verwendende wegen seiner Hautfarbe, seinem Alter und seinem Geschlecht abgelehnt wird?
Mich erstaunt einfach mit welcher Unbekümmertheit und Selbstverständlichkeit eine große Tageszeitung wie die Süddeutsche eine solche Abwertung über die Gruppe „Mann“ bei sich aufnimmt und was dort einfach so daran festgemacht werden kann, ohne das man wirklich Argumente verwendet.