Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Fall Kachelmann gegen Dinkel entschieden:
Die Meinungsfreiheit umfasst auch die Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert darzustellen, insbesondere als Erwiderung auf einen unmittelbar vorangegangenen Angriff auf die Ehre, der gleichfalls in emotionalisierender Weise erfolgt ist. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden. Damit gab sie der Verfassungsbeschwerde einer Beschwerdeführerin statt, die sich gegen eine zivilgerichtliche Unterlassungsverurteilung gewandt hatte.
Sachverhalt:
Der Kläger des Ausgangsverfahrens war mit der Beschwerdeführerin liiert, bis sie ihn Anfang des Jahres 2010 wegen Vergewaltigung und gefährlicher Körperverletzung anzeigte. Im darauf folgenden Strafprozess vor dem Landgericht wurde der Kläger freigesprochen, da ihm eine Straftat nicht nachgewiesen werden konnte. Am Tag des Freispruchs sowie am Tag darauf äußerten sich die Anwälte des Klägers in Fernsehsendungen über die Beschwerdeführerin. Etwa eine Woche nach der Verkündung des freisprechenden Urteils erschien zudem ein Interview mit dem Kläger, in dem er über die Beschwerdeführerin sprach. Daraufhin gab auch die Beschwerdeführerin ein Interview, das eine Woche nach der Veröffentlichung des Interviews mit dem Kläger erschien.
In der Folgezeit begehrte der Kläger von der Beschwerdeführerin die Unterlassung mehrerer Äußerungen, die sie im Rahmen dieses Interviews getätigt hatte. Das Landgericht verurteilte die Beschwerdeführerin antragsgemäß. Die Berufung zum Oberlandesgericht und die Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof blieben ohne Erfolg.
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen alle drei Entscheidungen und rügt im Wesentlichen die Verletzung ihrer Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG).
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrer Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
- Die Urteile des Landgerichts und des Oberlandesgerichts berühren den Schutzbereich der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin. Die Einordnung der Äußerungen als Werturteile und Tatsachenbehauptungen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Tatsachenbehauptungen sind nicht erwiesen unwahr. Im Strafverfahren konnte nicht geklärt werden, ob die Angaben der Beschwerdeführerin oder die des Klägers der Wahrheit entsprechen. Nach dem Freispruch des Klägers stellen sich deshalb die verschiedenen Wahrnehmungen als subjektive Bewertungen eines nicht aufklärbaren Geschehens dar, die nicht als Tatsachenbehauptungen, sondern als Meinungen zu behandeln sind.
- Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin. Die Untersagung der streitgegenständlichen Äußerungen bewegt sich nicht mehr im fachgerichtlichen Wertungsrahmen.
- a) Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als subjektive Freiheit des unmittelbaren Ausdrucks der menschlichen Persönlichkeit ein grundlegendes Menschenrecht. Sie umfasst nicht zuletzt die Freiheit, die persönliche Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten in subjektiver Emotionalität in die Welt zu tragen. Dabei kann insbesondere bei Vorliegen eines unmittelbar vorangegangenen Angriffs auf die Ehre eine diesem Angriff entsprechende, ähnlich wirkende Erwiderung gerechtfertigt sein. Wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, muss eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert.
- b) Die angegriffenen Entscheidungen genügen diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht. Zwar haben die Gerichte zutreffend einerseits das große Informationsinteresse der Öffentlichkeit und andererseits den Freispruch berücksichtigt, der dazu führt, dass die schweren Vorwürfe, die Gegenstand des Strafverfahrens waren, nicht unbegrenzt wiederholt werden dürfen. Auch haben sie berücksichtigt, wieweit die Äußerungen sich auf öffentliche Angelegenheiten bezogen.
Indem die Gerichte davon ausgingen, dass sich die Beschwerdeführerin auf eine sachliche Wiedergabe der wesentlichen Fakten zu beschränken habe, und hierfür auf das öffentliche Informationsinteresse abstellen, verkennen sie die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG auch unabhängig von einem solchen Interesse geschützte Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert zu bewerten. Zugleich übersieht diese Sichtweise das öffentliche Interesse an einer Diskussion der Konsequenzen und Härten, die ein rechtsstaatliches Strafprozessrecht aus Sicht möglicher Opfer haben kann. Zu Gunsten der Beschwerdeführerin war in die Abwägung zudem einzustellen, dass sie sich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem (noch nicht rechtskräftigen) Freispruch äußerte und lediglich wiederholte, was der Öffentlichkeit aufgrund der umfänglichen Berichterstattung zu dem Strafverfahren bereits bekannt war. Die Gerichte haben überdies das vorangegangene Verhalten des Klägers nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt. Der Beschwerdeführerin steht ein „Recht auf Gegenschlag“ zu und dabei ist sie nicht auf eine sachliche, am Interview des Klägers orientierte Erwiderung beschränkt, weil auch der Kläger und seine Anwälte sich nicht sachlich, sondern gleichfalls in emotionalisierender Weise äußerten. Der Kläger, der auf diese Weise an die Öffentlichkeit trat, muss eine entsprechende Reaktion der Beschwerdeführerin hinnehmen.
Eine Stärkung der Meinungsfreiheit, gleichzeitig, zumindest in solchen prominenten Fällen auch ein Rückschlag für Freigesprochene. Allerdings auch ein sehr spezieller Fall, den man nicht verallgemeinern kann.
Ich halte es für wichtig darauf hinzuweisen, dass Susanne Baer einer der zuständigen drei Richter war…
Ihre Grundhaltung, auch durch „subversive“ Handlungen den Feminismus voranzutreiben, ist ja mittlerweile bekannt.
http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/03/rk20160310_1bvr284413.html
Danischs Kommentar dazu scheint mir lesenswert.
http://www.danisch.de/blog/2016/04/30/das-bundesverfassungsgericht-zur-freiheit-der-meinung-vergewaltigt-worden-zu-sein/
@only_me @kardamom @Christian
Ich bin der Meinung, der Sprengsatz, den das darstellt, ist an euch vorbeigegangen.
Man muss sich diesen Eingangssatz der Begründung auf der Zunge zergehen lassen:
„Die Meinungsfreiheit umfasst auch die Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert darzustellen, insbesondere als Erwiderung auf einen unmittelbar vorangegangenen Angriff auf die Ehre, der gleichfalls in emotionalisierender Weise erfolgt ist.“
Kachelmann hat sich in seinem Prozess einen Freispruch reindrehen lassen müssen, der ihm gar nichts genützt hat.
Denn obwohl die Mehrzahl der Gutachter davon ausging, die Verletzungen des Opfers habe sich diese selbst beigebracht, demnach hätte das vermeintliche Opfer gelogen, erging Freispruch aber nicht wegen ihrer Faschbeschuldigung.
Gegen einen falsch begründeten Freispruch kann man aber nicht klagen – sehr clever.
Nun muss sich Kachelmann also von der Falschbeschuldigerin, die nur „subjektiv und sogar emotionalisiert(e)“ Aussage gefallen lassen, er sei *trotzdem* ein Vergewaltiger, obwohl ihm eine Vergewaltigung objektiv nicht nachzuweisen war.
Das wird frau doch mal sagen dürfen!
Den „Angriff auf die Ehre“ steht als EMPFINDUNG nicht ihm – als Mann – zu, nämlich *Opfer* einer Falschbeschuldigung und zu unrecht als Vergewaltiger dargestellt worden zu sein.
Bitte macht euch klar, wie perfide das Urteil verwendet wird, um Kachelmann als Aggressor darzustellen und die Falschbeschuldigerin als Opfer, welches sich doch nur wehrt!
Hier wird die Realität spielend auf den Kopf gestellt.
Die *Ehre* gebührt also ganz Frau, für die es unzumutbar ist, mit der Lügerei aufzuhören, wenn sie ihre Lüge SUBJEKTIV als Wahrheit EMPFINDET.
Wenn gesagt wird, es gebe die Freiheit, das „Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert darzustellen“, dann umfasst das aber nicht die Freiheit, eine wahrheitswidrige Tatsachenbehauptung einfach nur zu „empfinden“ und weiterzuverbreiten.
Was hier m.E. Einzug hält ist der *radikale Subjektivismus*, wonach es keine Wahrheit mehr gibt, sondern bloß subjektive Meinungen und Empfindungen.
Es ist völlig irrelevant, ob Baer mitgewirkt hat, es findet sich das radikalfeministische und poststrukturalistische Gedankengut in Reinform.
Es ist die Rettung des „listen and believe!“ über einen erfolgten Freispruch hinaus, der dir – als Mann – dann auch nichts mehr nützt.
Radikal weitergedacht kann es keine Falschbeschuldigung geben, weil es natürlich die Freiheit gibt, „ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert darzustellen“.
Auch und gerade wahrheitswidrig.
Es versteht sich von selbst, dass eine subjektive und emotionalisierte Verteidigung *eines Mannes* gegen eine Vergewaltigungsanschuldigung, die einen Rufmord darstellt, damit nicht gemeint ist.
Das ist natürlich ein *Angriff*.
Gegen das wahre Opfer.
Weil sie sich eben so *empfindet*.
Gruß, crumar
Natürlich, Konsequenz ist letzten Endes dass eine Frau dann vergewaltigt wurde, wenn sie sich vergewaltigt fühlt. Ein objektiver Tatbestand ist nicht mehr feststellbar.
300 Jahre Aufklärung sind beerdigt.
Noch einmal: Vorsatz und Aus
@crumar
„Was hier m.E. Einzug hält ist der *radikale Subjektivismus*, wonach es keine Wahrheit mehr gibt“
Das kann ich nicht nachvollziehen, es geht mE nur um die Meinungsfreiheit. Und diese schliesst eben auch radikalen Subjektivismus nicht aus.
Das Gericht wählt, die angeblichen gegenseitigen Vorwürfe gegeneinander aufzurechnen, schon da sie unmittelbar aufeinander folgten.
Dieses wäre sicher nicht möglich gewesen, wenn gleichzeitig ein Freispruch des Angeklagten und ein Schuldspruch wegen falscher Beschuldigung vorgelegen hätten. Letzteres ist nicht der Fall, die Beschuldigerin muss diesbezüglich als unschuldig gesehen werden (mögen auch noch so viele Gutachten eine Falschbeschuldigung nahe legen oder sogar Beweise dafür liefern).
Ich kenne den ganzen Fall völlig ungenügend und habe das auch nicht verfolgt (gleich mal als Einschränkung, könnte natürlich auch ein Vorteil sein) und weiss nicht, was Kachelmann seiner Ex zuerst vorwarf, worauf sie ihn irgendwie als Vergewaltiger bezeichnete. Aber es liegt sehr nahe, dass er sie als Falschbeschuldigerin bezeichnete – was eben „ehrabschneidend“ ist, worauf sie dementsprechend kontern darf…
Das Urteil sollte also absolut keine Grundlage sein, sich ermutigt zu fühlen mit Falschbeschuldigungen um sich zu werfen, weil diese jetzt von der Meinungsfreiheit gedeckt wären. Meinungsfreiheit hört bei den Rechten anderer auf, letztere sollten nicht eingeschränkt worden sein, durch dieses Urteil….
Gut aber, dass du auf dieses Zeugs achtest, ist wirklich sehr wichtig.
Umgekehrt darf Kachelmann Dinkel nicht als „Verbrecherin“ oder „Kriminelle“ bezeichnen (Quelle: Twitter).
Ich habe mir das Urteil jetzt mal anschauen können und muss im Ergebnis crumar weitgehend zustimmen. Unabhängig davon, wie man jetzt den konkret gegenständlichen Fall bewertet, können der Argumentation des Bundesverfassungsgericht gefährlich weit reichende Folgerungen entnommen werden.
Es ist letztlich ein Freibrief für alle „Opfer“ einer angeblichen Straftat, den „Täter“ auch nach einem Freispruch weiterhin als Straftäter darzustellen, solange im Urteil nicht ausdrücklich seine Unschuld nachgewiesen wird (was nur selten der Fall sein dürfte). Gleichzeitig wird praktisch der Straftatbestand der „üblen Nachrede“ (§ 186 StGB) gestrichen. Nach dieser Norm macht sich strafbar, wer über eine andere Person diffamierende Tatsachen behauptet, deren Wahrheit nicht bewiesen werden kann. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts stellen Tatsachenbehauptungen, bei denen weder die Wahrheit noch die Unwahrheit bewiesen werden kann, lediglich Meinungen dar, die der Meinungsfreiheit unterliegen und damit grundrechtlich geschützt sind.
Konsequenz ist, dass ein Richter (ggf. bis hoch zum Bundesverfassungsgericht) in derartigen Fällen mehr oder weniger willkürlich Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht gegeneinander abwägen und zum jeweils gewünschten Ergebnis kommen kann, denn wenn man erstmal zur Abwägung von Grundrechten gelangt, lässt sich fast immer jedes beliebige Ergebnis plausibel begründen.
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