Kulturelle Aneignung / Cultural appropriation

Im Zusammenhang mit der Intersektionalität und darauf aufbauend „Critical Whitness“gibt es auch immer wieder den Vorwurf der „Kulturellen Aneignung“ oder eben auf englisch „Cultural appropriation“.

Darunter versteht man, dass Personen aus einer anderen Kultur sich Symbole oder Praktiken einer anderen Kultur zu eigen machen. Problematisch wird dabei gesehen, dass diese Praktik oder dieses Symbol eine neue Bedeutung bekommt , die meist nichts mehr mit der eigentlichen Bedeutung zu tun hat und meist schlicht mit Spass/Freizeit/Mode zu tun hat.

Ein Beispiel war gerade auf Twitter kurz Gegenstand einer Diskussion:

„Hausverbot für „Weiße“ mit Dreadlocks, Mohawks und Tunneln. Also inwiefern ist das jetzt unterstützend für die Kämpfe von poc ?“

In der Twitter-Diskussion kamen dann die Argumente, dass das eben Rassismus sei, weil es eine kulturelle Aneignung ist, denn so werden diese Symbole zB als Widerstandsymbole entwertet. Dabei spielt man wohl auf diesen kulturellen Hintergrund in der Rastafari-Bewegung und in der Black-Power-Bewegung an:

Gleichzeitig wollten sich die Rastafari auch bewusst von der „importierten“ Kultur und dem Schönheitsideal der weißen Oberschicht, also der britischenKolonialmacht, abgrenzen und so gegen die Zerstörung ihrer Kultur protestieren. Da die verfilzten Locken der Rastafari dem Schönheitsideal der Weißen nun so gar nicht entsprachen, wurden sie von Außenstehenden als bedrohlich oder abstoßend empfunden. Schnell verbreiteten sich aus diesen Gründen allerlei negative Gerüchte auch über die Rastafari selbst, so dass die übrigen Leute begannen, sich auch vor ihnen zu fürchten und nicht nur die Frisur abstoßend zu finden. Daher „dread“ von „Furcht“ oder „dreadful“ von „schrecklich“, „furchtbar“.

Diese entwickelten sich schnell zum Symbol der Rastafari, und mit dem Erfolg der Reggae-Musik wurden auch die Dreadlocks weltweit bekannt und beliebt.

Da viele Rastafari Marihuana („Ganja“) rauchen, entstand auch im westlichen Kulturkreis das Klischee des dreadlocktragenden Kiffers.

Für manche Menschen afrikanischer Herkunft ist ihre, von gewelltem und krausem Haar geprägte, Frisur ein Ausdruck ethnischen Stolzes. So wurde von Afroamerikanern während der Bürgerrechts- und Black-Power-Bewegung in den 1950er und 1960er Jahren das – damals besonders bei Frauen populäre – Glätten der Haare als Anpassung und Unterwerfung an die europazentrierte Kultur der Weißen interpretiert und daher abgelehnt.

Auch Malcolm X trug zunächst kurze glatte Haare (den sogenannten Conk), was er später als „ersten Schritt zur Verleugnung seiner Identität als Schwarzer“ bezeichnete.[10]

Mit der Entwicklung der schwarzen Bürgerrechtsbewegung wurden stattdessen „original afrikanische“ Frisuren beliebt, um Individualität und Freiheit zum Ausdruck zu bringen, aber auch als eine Zurückweisung von Unterdrückung und Imperialismus, als Zeichen schwarzer nationalistischer oder pan-afrikanischer politischen Überzeugungen, als Symbole für schwarze Einheit und Macht sowie um die afrikanischen Wurzeln zu betonen. Zu diesen Frisuren zählte zunächst der Afro-Look, später kamen in Zusammenhang mit der Verbreitung des Reggae auch die Dreadlocks hinzu.Inzwischen ist das Tragen von Dreadlocks jedoch vom Mainstream vereinnahmt worden und hat seine explizit politische Aussage verloren.[11]

Die Anti-Establishment-Philosophie der Rastafari, wiederholt in vielen Reggae-Liedern der 1970er Jahre, zeigte auch in der weißen Bevölkerung Wirkung, besonders bei politisch links-gerichteten Jugendlichen, so dass auch hier Dreadlocks populär wurden. Parallel zur startenden Reggaebewegung wurden Dreadlocks in den 70er Jahren in der Goatranceszene populär, als die in Goa ansässigen Hippies begannen, Haartracht, Schmuck und auch Einstellungen der indischen Sadhus zu übernehmen und zu einer neuen Subkultur umzuformen. Daher sind Dreadlocks auch in der heutigen Goaszene noch sehr verbreitet. Ebenso in der Alternativbewegung, die als Oberbegriff für links-alternative Lebensweisen fungiert. So sind Dreads auch in den Bewegungen der Antiglobalisierungs- und Umweltaktivisten vertreten.

Hier spielt der hierarchische Aufbau nach Gruppen im Intersektionalismus hinein. Dazu hatte ich schon verschiedene Artikel:

Auch hier spielen, wie häufig im Feminismus, einige recht einfache Regeln der Über- und Unterordnung bzw. klare Schema von „Gut“ und „Böse“herein. Ich würde sagen, dass kulturelle Aneignung im wesentlichen folgenden Regeln unterliegt:

  • Bei der Frage, ob es sich um eine Aneignung handelt ist zunächst die übliche Hierarchisierung vorzunehmen. Nur wenn die Gruppe unterhalb der Gruppe steht, in der die Aneignung erfolgt, dann handelt es sich um eine unzulässige Aneignung. Die Hierarchien sind insoweit im Einzelfall schwierig, es ist aber sicher, dass Weiße sich jedenfalls nichts aneignen dürfen, da sie insoweit „Oben“ stehen. Gleichzeitig darf sich von Schwarzen / PoCs jedenfalls nichts angeeignet werden, da sie „unten“ stehen, also diskriminiert werden und keine Privilegien haben. Asiaten stehen irgendwo in der Mitte, wenn ein Schwarzer einen Kimono anzieht wäre es aber schon wieder interessant. Eine Lederhose dürften aber beide unproblematisch anziehen.
  • Der Vorwurf ist um so eher zu erwarten, um so eher man dem jeweiligen Symbol eine besondere Widerstandsfunktion oder eine besondere Symbolik zuweisen kann. Demnach sind eben Rasta-Locken oder Dreadlocks insoweit sehr aufgeladen, Kaffee oder Tee trinken, auch wenn es sicherlich auch einmal ein besonderer kultureller Brauch war oder vielleicht sogar ein Abgrenzungskriterium hingegen taugt weit weniger für einen solchen Vorwurf.
  • Gleichzeitig gilt aber der Grundsatz, dass alles vorgeworfen werden kann, was irgendwie der Abgrenzung dient, auch den Vorwurf der kulturellen Aneignung begründen kann, wenn er aus der nichtprivilegierten Gruppe kommt.

Ein paar Beispiele finden sich bei der Mädchenmannschaft:

Es ist nicht „nur“ ein Foto. Es ist die renitente, kontuinierliche, systematische Aufrechterhaltung der bestehenden Machtverhältnisse, die tausende solcher Fotos sowie eine Gesellschaft produziert, die mehrheitlich der Meinung ist, diese Fotos seien akzeptabel.

Wer bei Google „cultural appropriation“ in die Suchleiste tippt, bekommt einen Eindruck davon, wie gut People of Color es finden, dass die Devotionalien ihrer jeweiligen Kultur von weißen Leuten getragen werden, die es nicht interessiert, was sie damit tun und wen sie damit beleidigen.

Spoiler alert:

Japaner_innen sind NICHT hellauf begeistert davon, dass Polyesterkimono als Karnevals- oder Halloweenkostüme verkauft werden.

Inder_innen sind NICHT erfreut von Hipstern, die sich Bindis auf die Stirn kleben.

Cherokee, Sioux, Choctaw und andere Ureinwohner_innen Amerikas finden es NICHT großartig, dass die gleichen Hipsterkids sich Warbonnets über den Kopf ziehen.

Und Schwarze auf allen Kontinenten sind NICHT total glücklich darüber, dass man Schwarze Models prinzipiell nur mit geglätteten Haaren sieht, aber blonde/brünette Weiße bedenkenlosDreadlocks (und anscheinend auch „Afro“-Perücken) spazieren tragen können, ohne um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu bangen.

Interessant auch das die Erwiderung zu dem Argument im gleichen Artikel, dass viele Angehörige dieser Kulturen damit kein Problem haben:

Ich habe selten eine Diskussion mitverfolgt, in der sich nicht früher oder später jemand mit dem Einwand zu Wort meldete, man kenne eine Person of Color, der das ganze nichts ausmache. Manchmal ist es auch eine PoC selbst, die kommentiert, sie fände den diskutierten Vorfall nicht rassistisch. Als eine Person of Color, der es nicht egal ist, habe ich schockierende Neuigkeiten für euch:

Liebe Weiße,

wenn ihr ein paar Uncle Toms [Ergänzung, März 2015: Auf Wunsch der Autorin nun gestrichen, da es sich um einen „African American Vernacular English“-spezifischen Begriff handelt] Leute kennt, die in etwa so ignorant sind wie ihr, gleichzeitig aber einer anderen Ethnizität angehören, könnt ihr daraus keine Legitimation für euer menschenverachtendes Verhalten ableiten.

Wenn euch eine weiße Person sagt, dass ihr sie „dummes Stück“ nennen dürft, weil ihr so gute Freunde seid, lautet eure Schlussfolgerung wahrscheinlich (/hoffentlich) auch nicht, dass jede andere weiße Person es gleichermaßen geschwisterlich auffassen wird.

Hört auf, euch am kulturellen Erbe nichtweißer Ethnizitäten zu bereichern. Ihr dürft unseren Kram nicht tragen.

Warum?

Weil wir ihn selber nicht tragen dürfen, ohne von euch stereotypisiert und exkludiert zu werden. Ihr habt eine Situation geschaffen, in der People of Color in ihren Nationaltrachten oder mit ihrer Naturhaarstruktur mehrheitlich mit rassistischen Klischees konnotiert werden. (Nicht, dass uns das ansonsten nicht passieren würde – wir sind konstant einem Rassismus ausgesetzt, dessen Allgegenwärtigkeit vehement geleugnet wird.)

Ihr habt die Privilegienolympiade gewonnen. Zeigt ein bisschen Anstand, indem ihr eure Medaillen/Warbonnets/Bindi/Kimono/Afroperücken nicht zur Schau stellt.

Das klassische Eifersuchtsargument, welches auch sonst aus meiner Sicht häufig den Boden der „Privilegientheorie“ bildet:

Ihr dürft das nicht haben, denn ich habe es ja auch nicht so wie ich es will.

Ich finde es ja immer wieder faszinierend, dass man einerseits Multi-Kulti. Verständnis unf Akzeptanz füreinander und die Aufgabe von Rassismus will, zum anderen aber Gruppenidentitäten erbittert verteidigt.

Kulturelle Aneignung ist meiner Meinung nach schlicht eines der besten Mittel um gegen Rassismus vorzugehen. Um so normaler und internationaler bestimmte Zeichen werden, um so weniger kann man sie als Mittel des Out-Groupings einsetzen. Wer will, dass jemand mit Dreadlocks nicht blöd angemacht wird, der sollte eben befürworten, dass diese möglichst verbreitet werden.

Es bliebe die Erwiderung, dass diese nicht – wie etwa im Karneval – als Verkleidung benutzt werden sollten, da dies eine Form der Abwertung sei, die Stereotype erzeugt. Aber das hängt meiner Meinung nach doch stark von der Form der Verkleidung ab. Auch hier kann ich mir vorstellen, dass die meisten Angehörigen einer entsprechenden Kultur das entspannt sehen können, wenn es friedlich und als Spass erfolgt und insbesondere, wenn es die weitergehende Vergangenheit betrifft, wie eben bei der ursprünglichen Kleidung von Indianern. Gerade bei Japanern, die ja nun als entsprechende Industrienation nicht gerade stark unterdrückt sind, sollte man meinen, dass da eine gewisse Lockerheit herrscht.

Ansonsten könnte man vielleicht noch anführen, dass es Leute stört, wenn für sich besonders wichtige Symbole entwertet werden, etwa solche mit einem ansonsten starken Tabu gegen eine profane Benutzung. Das wäre vielleicht gerade bei besonderen religiösen Symbole der Fall. Da ist unsere Kultur vergleichsweise Tolerant. Würde ein Papstkostüm besonderes Aufsehen hervorrufen? Oder ein solches hier? Es sind wahrscheinlich eher die Gruppen, die selbst am intolerantesten sind, die solche Taus aufrechterhalten.

Eine weitere Zusammenstellung von Stimmen findet sich in diesem Beitrag auf dem Mädchenblog:

Auch Teariffic beschäftigt sich mit dem Thema; auch hier ist Critical Whiteness ein wichtiger Punkt:

Zweitens ist es mir wichtig zu betonen, dass es einen Unterschied zwischen kultureller Adaption und Aneignung gibt. Adaption ist im Zuge der Globalisierung kaum vermeidbar und ist per se nicht negativ. Das Feiern von Weihnachten in nicht-christlichen Ländern oder multi-kulturelle Küche sind die geläufigsten Beispiele dafür.
Bei der Aneignung ist es allerdings immer mit Privilegien und Rassismus verbunden.

Hier ist mir die Abgrenzung nicht wirklich klar: Ich würde anhand des Beispiels vermuten, dass Adaption „nach oben“ erfolgt, also zB wenn Schwarze etwas von Weißen übernehmen, Aneignung aber „nach unten“, wenn also zB Weiße etwas von Schwarzen übernehmen. In dem Artikel findet sich dazu noch das folgen Zitat: „(…)Appropriation implies taking for oneself, to seize possession (or “adopt”) without consent or consideration in a way that detracts from the source culture’s ability to access or enjoy that which you have taken. It is stealing. It is inherently negative. Unlike cultural adoption or depiction, there is no good kind of cultural appropriation.“ Da spielt dann also vielleicht auch noch mit rein, dass man etwas seiner Symbolik beraubt, aber tatsächlich „stehlen“ kann wahrscheinlich auch nur der, der Macht hat, was einen wieder in die Hierarchie bringt.

Weiter beim Mädchenblog:

Andrew Chin spricht an, wie unsensibel sich Weiße (und in dem Fall die US-amerikanische Gesellschaft) asiatische Kultur aneignen:

The limits of this „willingness to understand“ extend also to a willingness to share cultural power: whites are generally willing to engage in cultural and social transactions with Asian Americans only to the extent that white domination of American culture and society is not challenged. The eating of sushi and the wearing of Chinese-character tattoos as fashion trends do nothing to protect Asian Americans from continuing racial discrimination.

Da geht es also wieder um Macht. Aber richtig logisch erscheint es mir nicht: Denn man wird eben keinen Nazi mit einem Tattoo mit chinesischen Schriftzeichen sehen. Und ein Nazi mit Springerstiefeln und „Ausländer raus“-Schriftzug wird wohl auch eher keinen Döner kaufen.

The Angry Black Woman analysiert das Problem:

I thought it would be appropriate to first define what we mean when we talk about Cultural Appropriation. What is it? What do you mean when you apply that term? If we can all express that and put up a few loose boundary markers around the subject, that will make discussing its effects and manifestations a little easier.
As a writer of color, I’m used to discussing cultural appropriation in the artistic sphere. Remember, though, that the issue extends beyond art – spirituality, style/fashion, speech, attitudes and more. Let’s bring them all in.

Bei Thisisnotindia wird auch nochmal grundlegendes erklärt:

While Hindu iconography is commonplace and used pretty much everywhere, you will never see it imprinted on commonly used items such as t-shirts, pants, shirts or tattooed on bodies.
The context of religion, politics and history is erased completely —- only to be replaced by the vacuous and profitable hook found in the imagery of elephant-heads, multi-hands, multi-heads, and hanging tongues. When Hindu iconography is reduced to its consumerist shock value in the West, it becomes a question of cultural neocolonialism.

Da wäre also wieder der Aspekt, dass es seiner eigentlichen Bedeutung beraubt wird und damit wertlos wird. Wobei man ja auch beispielsweise in Asien Leute mit bescheuerten Aussagen in Englisch auf dem T-Shirt herumlaufen sieht. Es ist eben ein typisches Phänomen, wenn eine Sprache oder eine Symbolik fremd aber für die meisten nicht lesbar ist.

Lady Lukara bloggt bei Reality Rags einen Text mit einer etwas anderen, differentzierteren Sichtweise und fordert respektvollen Dialog (der in den durchaus interessanten Kommentaren auch entsteht):

Ich liebe Multikulti, das ist für mich nicht nur ein Wort, es fühlt sich bis ganz tief in mir drin gut an, wenn Kulturen sich kennenlernen, verstehenlernen und vermischen, auf allen Ebenen! Ich bin Weltbürgerin, yes!!! Natürlich meine ich nicht die „Veroberflächlichung“ zu Fashionstatements. Wie oben schon erklärt finde ich es wichtig, dass der Ursprung und die Bedeutung der Symbole, Rituale und Trachten erhalten und respektiert werden muss, weil sie das Leben ungemein bereichern und ich bin dafür, dass diese respektvolle Bereicherung allen, unabhängig von Hautfarbe und Herkunft, zugänglich sein sollte, da dies – entgegen der ganzen beschissenen Abschottung – uns zusammenführen mag, uns Verständnis und Gemeinsamkeiten unserer Kulturen entdecken lassen kann.

Das finde ich schon eher eine passende Herangehensweise – Keine Abschottung, aber vielleicht ein gewisses Gefühl dafür behalten, was es für die andere Kultur bedeutet.