Selbermach Samstag 132 (18.04.2015)

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Gastartikel: „Gegen Diversity“

Es handelt sich um eine Übersetzung dieses Artikels von Walter Benn Michaels  durch Leszek Die Veröffentlichung bedeutet nicht, dass ich den dortigen Theorien zustimme. 

Aus: New Left Review 52, Juli-August 2008

Niederlagen und Siege in Bezug auf „Race“ und „Gender“ waren die dominierenden Diskussionsthemen zur US-Präsidentschaftswahl im Jahre 2008. Walter Benn Michaels vertritt die Auffassung, dass die von Obama und Clinton geführten Kampagnen Siege für den Neoliberalismus waren, kein Sieg über ihn – und nur dazu dienen, Ungleichheit zu verschleiern.

Walter Benn Micheals

Gegen Diversity

Die Wichtigkeit von „Race“ und „Gender“ in der gegenwärtigen amerikanischen Präsidentschaftskampagne spiegelt natürlich die Bedeutung von Themen wie Rassismus und Sexismus – d.h. von Diskriminierung – in der amerikanischen Gesellschaft wieder, eine Tatsache, die z.B. in einem New York Times-Artikel nach der Präsidentschaftswahl mit dem Titel „Age Becomes the New Race and Gender“ offensichtlich wird. Es ist zweifelsohne schwierig Altersdiskriminierung (Ageismus) als genaues Pendant zu Rassismus und Sexismus zu betrachten – denn letztendlich ist ein Teil dessen, was falsch an Rassismus und Sexismus ist, dass dadurch falsche Stereotype aufrechterhalten werden, während ich, als jemand der gerade 60 Jahre alt geworden ist, bestätigen kann, dass eine gewisse Anzahl an Stereotypen, die angeblich Altersdiskriminierung ausmachen, wahr sind. Aber die schiere Unplausibilität der Auffassung, dass das Hauptproblem am alt sein die Vorurteile gegen etwaige Altersgebrechen, statt die Altersgebrechen selbst seien, zeigt wie mächtig Diskriminierung als Modell für Ungerechtigkeit in Amerika geworden ist; und wie zentral die Überwindung von Diskriminierung für unsere Gerechtigkeitsauffassung ist.

Von diesem Standpunkt aus betrachtet, war der Wettstreit zwischen Obama und Clinton ein Triumph, verdeutlichte er doch sowohl die großen Schritte, die zum Ziel der Überwindung von Rassismus und Sexismus hin gemacht wurden als auch die große Strecke, die bis zu diesem Ziel noch gegangen werden muss. Es war, in anderen Worten, möglich, Amerika als eine Gesellschaft zu verstehen, die auf dem richtigen Weg ist, aber noch eine weite Strecke vor sich hat. Der Reiz dieser Vision – nicht nur für Amerikaner, sondern für die ganze Welt – ist offensichtlich. Das Problem ist, dass sie unzutreffend ist. Die USA von heute ist natürlich eine weniger diskriminierende Gesellschaft als sie es vor der Bürgerrechtsbewegung und dem Aufstieg des Feminismus war; aber sie ist keine gerechtere, offenere und gleichere Gesellschaft. Im Gegenteil: sie ist nicht gerechter, sie ist weniger offen und viel weniger gleich.

Im Jahre 1947 – sieben Jahre vor der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten im Falle „Brown gegen das Board of Education“, sechzehn Jahre vor der Veröffentlichung von Betty Friedans „The Feminine Mystique“ (dt. „Der Weiblichkeitswahn“) – verdiente das obere Fünftel der amerikanischen Lohnempfänger 43 % des Geldes, das in den USA verdient wurde. Heute verdient das selbe Fünftel 50,5 %. Im Jahre 1947 verdiente das untere Fünftel der Lohnempfänger 5 % des Gesamteinkommens; heute bekommt es 3,4 %. Nach einem halben Jahrhundert von Antirassismus und Feminismus sind die USA von heute eine weniger gleiche Gesellschaft als die rassistische und sexistische Gesellschaft der Jim Crow-Ära. Des Weiteren ereignete sich der Anstieg von Ungleichheit praktisch seit der Verabschiedung des Civil Rights Act von 1965 – was nicht nur bedeutet, dass die Erfolge des Kampfes gegen Diskriminierung bei der Verringerung von Ungleichheit versagt haben, sondern mit einer radikalen Ausweitung von Ungleichheit vereinbar waren. Tatsächlich haben sie zu der immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich beigetragen.

Warum? Weil es Ausbeutung ist, nicht Diskriminierung, die hauptverantwortlich ist für die heutige Ungleichheit. Es ist der Neoliberalismus, nicht Rassismus oder Sexismus (oder Homophobie oder Altersdiskriminierung), der die bedeutendsten Ungleichheiten in der amerikanischen Gesellschaft schafft; Rassismus und Sexismus sind nur Sortierungswerkzeuge. Tatsächlich ist es eine der großen Entdeckungen des Neoliberalismus dass es, wirtschaftlich gesehen, keine sehr effizienten Sortierungswerkzeuge sind. Wenn man z.B. jemanden als Vertriebsleiter für seine Firma sucht und zwischen einem weißen Hetero-Mann und einer schwarzen Lesbe wählen muss, letztere aber faktisch eine bessere Verkäuferin als ersterer ist, mögen Rassismus, Sexismus und Homophobie einem raten sich für den weißen Hetero-Mann zu entscheiden, aber der Kapitalismus würde einem raten sich für die schwarze Lesbe zu entscheiden. Was soviel heißt wie, dass obwohl einige Kapitalisten rassistisch, sexistisch und homophob sein können, der Kapitalismus selbst dies nicht ist.

Dies ist auch der Grund, warum die tatsächlichen (wenn auch nur partiellen) Siege über Rassismus und Sexismus, wie sie die Clinton- und Obama-Kampagnen repräsentieren, keine Siege über den Neoliberalismus sind, sondern Siege für den Neoliberalismus: Siege für ein Bemühen um Gerechtigkeit, welches kein Problem mit Ungleichheit hat, solange die Nutznießer dieser Ungleichheit hinsichtlich Rasse und Geschlecht genauso diversifiziert sind wie deren Opfer. Dies ist die Bedeutung von Redewendungen wie der „gläsernen Decke“ und von jeder Statistik, die zeigt, dass Frauen weniger als Männer oder Afroamerikaner weniger als Weiße verdienen. Es ist nicht so, dass diese Statistiken falsch wären; diese Aspekte aber zu den zentralen Mißständen zu erklären, auf die bevorzugt zu fokussieren sei, hat zur Folge, das man denkt, dass wenn nur mehr Frauen die gläserne Decke durchbrechen könnten und so viel Geld verdienen würden wie reiche Männer oder Schwarze genau so viel verdienen würden wie Weiße, Amerika sich einer gerechten Gesellschaft annähern würde.

Es ist die steigende Kluft zwischen Arm und Reich, die die Ungleichheit erzeugt und die Erfolgreichen mit Bezug auf Rasse und Geschlecht umzugruppieren, lässt diese Kluft unberührt. Im momentan existierenden Neoliberalismus sind Schwarze und Frauen unverhältnismäßig repräsentiert sowohl im unteren Fünftel – zu viele – als auch im oberen Fünftel – zu wenig – der amerikanischen Einkommen. Im neoliberalen Utopia, das die Obama-Kampagne verkörpert, wären Schwarze 13,2 % der (zahlreichen) Armen und 13,2 % der (sehr viel weniger) Reichen; Frauen wären 50,3 % von beiden. Was dies für Neoliberale zu einer Utopie macht, ist, dass Diskriminierung in der Verwaltung dieser Ungleichheit keine Rolle spielen würde, was diese Utopie neoliberal macht, ist, dass die Ungleichheit unangetastet bliebe.

Noch schlimmer: es ist nicht nur so, dass die Ungleichheit intakt bleibt, sondern dass sie – da sie nicht mehr durch Diskriminierung erzeugt wird – legitimiert wird. Offensichtlich fühlen sich amerikanische Liberale sehr wohl hinsichtlich einer Welt, in der die oberen 20 Prozent auf Kosten von allen anderen reicher werden, solange die oberen 20 Prozent eine angemessene Anzahl von Frauen und Afroamerikanern beinhalten. In dieser Hinsicht ist die Fähigkeit der Obama-Kampagne uns dazu zu bringen, uns wohl mit uns selbst zu fühlen, während unser Reichtum unangetastet bleibt, beeindruckend – wie es seine Steuervorschläge versinnbildlichen, die mehr von den „Wohlhabenden“ verlangen, aber nicht von der „Mittelklasse“. Wer sind die Wohlhabenden? „Als Wohlhabende bezeichne ich im Allgemeinen“, so Obamas Webseite, „Menschen die im Jahr 250 000 $ oder mehr verdienen“. Was bedeutet, dass z.B. Leute, die 225 000 $ verdienen (wobei nur 3 Prozent der amerikanischen Einkommen höher sind), Mittelklasse wären; und es somit verdient hätten genauso viele Steuern zu bezahlen wie die im fünfzigsten Perzentil, die 49 000 $ verdienen. Die Schlagzeile der Webseite, auf der dies steht, lautet ‘I’m Asking You to Believe’. Aber von den 40 % der Amerikaner, die von weniger als 42 000 $ leben, zu erwarten, dass sie glauben zur selben Mittelklasse zu gehören wie die ungefähr 15 %, die 100 000 $ – 250 000 $ verdienen, wäre etwas zuviel verlangt. Dies ist aber, was die Demokratische Partei die letzten 20 Jahre von ihnen erwartet hat zu glauben. Wirtschaftliche Ungleichheit wuchs unter der Clinton-Administration nicht im selben Tempo wie unter den beiden Bush-Präsidentschaften, aber sie wuchs. Als Clinton 1992 gewählt wurde, verdiente das unterste Fünftel 3,8 % und das oberste 46,9 % des Gesamteinkommens; im Jahre 2000, am Ende seiner zweiten Amtszeit, verdiente das untere Fünftel 3,6 % und das obere 49,8 %.

Der entscheidende Punkt ist, dass die Nominierung von Obama eine gute Nachricht für solche US-amerikanische Liberale darstellt, die Gleichheit mögen, wenn es um Rasse und Geschlecht geht, die aber nicht so begeistert sind, wenn es ums Geld geht. Solche Liberale sind die Leute, die glauben, dass amerikanische Universitäten und Colleges offener geworden seien, obwohl sie zunehmend und fast ausschließlich von reichen Sprösslingen bevölkert werden, weil darunter heute mehr „rich kids of colour“ sind. (Obamas Popularität auf dem College Campus ist kein Zufall – er fungiert als Diversity-Symbol.) Und jetzt, wo sie dabei geholfen haben, die Armen vom College fernzuhalten und dadurch dazu beigetragen haben, dass sie arm bleiben, sind diese Liberalen bemüht zu betonen, dass weiße Wähler, die nur eine High-School-Ausbildung haben (nämlich genau die Leute, die nicht nach Harvard gehen) Obama überproportional skeptisch gegenüberstehen. Sie sind froh, den ignoranten Rassismus der Menschen verurteilen zu können, die sie selbst im Zustand der Ignoranz gehalten haben und deren Rassismus sie damit ermöglicht haben. Die Obama-Kandidatur ist, in anderen Worten, eine gute Nachricht für einen Liberalismus, der genau so elitär ist wie seine konservativen Kritiker behaupten – obwohl er natürlich nicht ganz so elitär ist, wie es die konservativen Kritiker selber sind.

Es gibt einen echten Unterschied zwischen Obama und McCain. Aber es ist der Unterschied zwischen einem Neoliberalismus der Mitte und einem Neoliberalismus von rechts. Wer auch immer gewinnt, die Ungleichheit in Amerika wird davon im Wesentlichen unberührt bleiben. Es ist wichtig, sich zu verdeutlichen, wie groß diese Ungleichheit ist. Ein statistisches Maß für ökonomische Ungleichheit ist der Gini-Koeffizient, bei dem 0 völlige Gleichheit repräsentiert (alle verdienen das Gleiche) und 1 völlige Ungleichheit (eine Person verdient alles). Der Gini-Koeffizient für die USA im Jahre 2006 lag bei 0,470 (1968 lag er bei 0,386). Der heutige von Deutschland liegt bei 0,283, der von Frankreich bei 0,327. Amerikaner lieben es immer noch über den „Amerikanischen Traum“ zu reden – wie es Europäer tatsächlich auch tun. Aber der Traum war niemals mehr von der Realität entfernt als heutzutage. Nicht nur, weil die Ungleichheit so hoch ist, sondern auch weil die soziale Mobilität so niedrig ist, tatsächlich niedriger als sowohl in Frankreich wie in Deutschland. Jemand, der arm in Chicago geboren wurde, hat eine größere Chance den „Amerikanischen Traum“ zu verwirklichen, wenn er Deutsch lernt und nach Berlin zieht als wenn er zuhause bleibt.

Ob Debatten über „Race“ und „Gender“ in der amerikanischen Politik Eigenlob bezüglich der gemachten Fortschritte in den USA beinhalten oder Selbstgeißelung bezüglich des noch weiten Weges, oder ob darüber gestritten wird, ob Rassismus oder Sexismus schlimmer ist, der entscheidende Punkt ist, dass die Debatte selbst im Wesentlichen bedeutungslos ist. Natürlich ist Diskriminierung falsch; niemand in der amerikanischen Mainstream-Politik wird sie verteidigen, und auch kein Neoliberaler, der versteht, welche Folgerungen aus dem Neoliberalismus zu ziehen sind, wird dies tun. Aber es ist nicht Diskriminierung, die die fast beispiellosen Grade von Ungleichheit hervorruft, der Amerikaner heute gegenüberstehen, es ist der Kapitalismus.

So ausgedrückt ist es offensichtlich, dass die Charakterisierung der Race-Gender-Debatte als bedeutungslos einer Erläuterung bedarf. Denn die Antwort auf die Frage „Warum sprechen amerikanische Liberale weiterhin über Rassismus und Sexismus, wenn sie vom Kapitalismus sprechen sollten?“ ist ziemlich offensichtlich: sie reden weiter über Rassismus und Sexismus, um zu vermeiden über den Kapitalismus reden zu müssen. Entweder, weil sie ernsthaft glauben, dass Ungleichheit in Ordnung ist, solange sie keine Funktion von Diskriminierung darstellt, (in welchem Fall sie rechte Neoliberale sind). Oder weil sie denken, dass gegen Ungleichheit in Bezug auf „Race“ und „Gender“ zu kämpfen wenigstens ein Schritt in Richtung echter Gleichheit ist, (in welchem Fall sie linke Neoliberale sind). Bedenkt man diese beiden Möglichkeiten, sind die rechten Neoliberalen möglicherweise in der stärkeren Position – die Wirtschaftsgeschichte der letzten dreißig Jahre deutet darauf hin, dass diversifizierte Eliten besser funktionieren als homogene Eliten.

Doch natürlich sind dies nicht die einzigen Möglichkeiten zwischen denen man wählen kann.