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Tag: 10. Mai 2014
Krankheitsgewinn und die Opferrolle
Ich bin auf den Begriff Krankheitsgewinn gestoßen und frage mich nun, inwieweit dieser ein Einnehmen einer Opferrolle, sei es des unterdrückten Mannes, der nur ausgebeutet wird oder der Frau, die vom Patriarchat unterdrückt wird, attraktiver macht.
Unter Krankheitsgewinn versteht man das Folgende:
Krankheitsgewinn (engl.: morbid gain) ist eine allgemeine Bezeichnung für die objektiven und/oder subjektiven Vorteile, die ein (tatsächlich oder vermeintlich) Kranker aus seiner Krankheit bzw. die ein Patient aus seiner Diagnose zieht.
Sobald ein Mensch die Rolle des Kranken einnimmt, kann er in der europäischen Kultur in der Regel davon ausgehen,
- von Alltagspflichten entbunden zu werden,
- Anteilnahme / Mitleid / Mitgefühl zu erfahren und/oder
- von seiner Umwelt schonend behandelt zu werden.
Auch kann der Kranke mit wirtschaftlicher Unterstützung von Sozialversicherungsträgern rechnen; er wird dadurch teilweise oder ganz vom eigenen Erwerb entbunden.[1]
Diese gesellschaftlich allgemein gewünschte Einstellung ist von der gegenüber Aggravation und Simulation zu unterscheiden:
- Simulation ist eine absichtliche und bewusste Vortäuschung und Nachahmung der Krankheitssymptome ohne Krankheitswert.
- Bei der Aggravation sind tatsächliche Krankheitsveränderungen vorhanden; diese werden absichtlich überbetont.[2]
Die Einteilung in primären Krankheitsgewinn und sekundären Krankheitsgewinn geht zurück auf Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse.
- Der primäre Krankheitsgewinn besteht in inneren oder direkten Vorteilen, die der kranke Mensch aus seinen Symptomen zieht: z. B. kann er dadurch als unangenehm empfundenen Situationen oder Konflikten aus dem Weg gehen. Das Symptom wird dann zwar als unangenehm erlebt, jedoch erlaubt es dem Kranken, keine sofortige (aus dem Konflikt herausführende) Entscheidung treffen zu müssen (oft erkennt er einen Konflikt, den er hat oder in dem er steht, gar nicht als solchen). Er fühlt sich nur in einer unangenehmen (für ihn z. Z. ausweglos erscheinenden) Situation, welche ihn schwächt. Der Zusammenhang zwischen Konflikt und Krankheitssymptomen wird nicht für möglich gehalten und bleibt unbewusst. Auch kann das Symptom unbewusst dazu dienen, unangenehmeren Konflikten aus dem Weg zu gehen (z. B. das plötzliche Erkranken vor einer schweren Prüfung).
- Der sekundäre Krankheitsgewinn besteht in den äußeren Vorteilen, die der kranke Mensch aus bestehenden Symptomen ziehen kann, wie dem Zugewinn an Aufmerksamkeit und Beachtung durch seine Umwelt und/oder z. B. der Möglichkeit, im Bett bleiben zu können und dort Nahrung serviert zu bekommen.[3] Stavros Mentzos sieht in diesem Aspekt eine allgemeine Bedeutung des Symptoms, die nicht nur bei der Hysterie, sondern auch bei anderen psychischen Auffälligkeiten wie etwa bei Zwängen und Phobien einen kommunikativen Aspekt dieser Symptomsprache offenbaren und damit gleichzeitig auch einen therapeutischen Zugang ermöglichen.[4]
Wer sich selbst als Krank darstellt oder tatsächlich sieht, der kann eben auch ansonsten auf Mitleid, Anteilnahme und Unterstützung hoffen und von den Alltagspflichten entbunden werden. Er kann dadurch Situationen und Konflikten aus dem Weg gehen und Verantwortung abgeben. Er kann fordern, dass man mehr auf ihn Rücksicht nimmt und ihn bei der Heilung unterstützt.
Genau das ist es eigentlich, was man häufig in der Geschlechterdebatte beobachtet:
Die gesellschaftliche Situation oder das Geschlechterverhältnis wird in die Nähe einer Krankheit gerückt, an der das eigene Geschlecht krankt und deren Nachteile man selbst trägt. Die andere Seite wird teilweise mit entsprechenden Begriffen belegt, etwa Femastasen oder Parasiten oder jedenfalls als etwas, was einen fertig macht, einem die Kraft raubt, einen leiden lässt. „Am Patriarchat zu leiden“ wird häufig im Feminismus verwendet und einige radikale Feministinnen schildern gerne, dass sie die Unterdrückung oder eben das ständige Vorhalten von binären Geschlechterrollen stark angreifen, so, dass sie dies kaum ertragen können, deswegen Schmerzen erleiden, ihnen die Luft zum atmen fehlt.
Durch die Darstellung des Kranken und des anderen als die Krankheit wäre auch die Privilegientheorie erklärlich: Eure Rechte sind der Virus, der mich am Boden hält und ich möchte doch nur wieder gesund werden, aufstehen, frei durchatmen können, aber wie, wenn die ganze Welt voller Viren ist? Wenn man zu schwach ist bzw. zu stark, dann kann man so zusagen nur im Bett liegen und darf verlangen, dass andere die Lage bessern und die Krankheit abstellen. „ihr macht mich krank“ wäre dann der Vorwurf und er ist eben leicht kombinierbar damit, dass man auch als Kranker behandelt werden möchte, also dem Einfordern von Vorzügen und einer schonenden Behandlung, gerade wenn der andere dafür verantwortlich ist, dass man krank und kraftlos ist. Die Rolle des Kranken passt auch gut zur Theorie der weiblichen Hypoagency, der weiblichen Unterverantwortlichkeit, und würde auch noch einmal deutlicher machen, warum diese Rolle dem Mann, dem allgemein weniger Schwäche, weniger das Zeigen von Krankheit erlaubt ist, eher versagt bleibt oder leicht gegen ihn zu instrumentalisieren ist.