Jungenkrise, männliche Rollenbilder und Amoklauf

In verschiedenen Artikeln wird der jüngste Amoklauf in Newtown mit der allgemeinen Jungenkrise in Verbindung gebracht:

Walter Holstein schreibt im Tagesspiegel in dem Artikel „Warum Männer Amok laufen„:

Die Zahl der Problemjungen hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Legastheniker, Kinder mit dem ADHS-Syndrom, Schulversager oder Frühkriminelle sind fast ausschließlich Jungen. Der 18-jährige Amokläufer von Emsdetten bringt es in seinem Abschiedsbrief lakonisch auf den Begriff: „Das Einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin.“ Da liegt dann Rache als „Ausweg“ nahe.(…)

Die Folgen bezeichnet eine große empirische Studie des Heidelberger Sinus-Instituts über „20-jährige Frauen und Männer“: Die jungen Männer „sehen sich unter hohem Performance-Druck. Sie können und sollen heute auf alle Ansprüche flexibel reagieren: Sie sollen Frauenversteher, durchtrainierte Machos, Kinderwagen schiebender Papa und Karrieretyp sein. Das Dilemma ist: Egal, für welche Rolle sie sich entscheiden: der Erfolg ist ihnen nicht garantiert“. Insofern hätten sie immer mehr Angst vor der Zukunft und befürchteten sogar, demnächst überflüssig werden zu können. Zu solchen Ängsten trägt der Zeitgeist fleißig bei. Was einmal in der öffentlichen Darstellung – sicher idealisiert – die „Krone der Schöpfung“ gewesen ist, erscheint nun – sicher übertrieben – als Latrine der Gegenwart: unnütz, böse, aggressiv und degoutant.

Ein anderer Artikel noch zu Columbine sieht eher zu starke Rollenbilder in der Verantwortung:

Numerous other media targeting boys convey similar themes. Thrash metal and gangsta rap, both popular among suburban white males, often express boys‘ angst and anger at personal problems and social injustice, with a call to violence to redress the grievances. The male sports culture features regular displays of dominance and one-upsmanship, as when a basketball player dunks „in your face,“ or a defensive end sacks a quarterback, lingers over his fallen adversary, and then, in a scene reminiscent of ancient Rome, struts around to a stadium full of cheering fans.

How do you respond if you are being victimized by this dominant system of masculinity? The lessons from Columbine High – a typical suburban „jockocracy,“ where the dominant male athletes did not hide their disdain for those who did not fit in – are pretty clear. The 17- and 18-year-old shooters, tired of being ridiculed or marginalized, weren’t big and strong and so they used the great equalizer: weapons.

Ich frage mich auch, ob die Rollenbilder für Jungs sich wirklich so gewandelt haben. Die gesamte Genderdiskussion ist ja in der Bevölkerung selbst nur relativ unzureichend angekommen. Die Jungs orientieren sich nicht an den Lehrerinnen, sondern an ihrem Umfeld, ihren Peers. Sicherlich gibt es unterschiedliche Rollenerwartungen, allerdings gab es auch schon immer coole und uncoole Jungs, brave und weniger brave. Es gab schon immer Aussenseiter und Populäre.

Die Eingebundenheit von Schülern erfolgt nicht über Lehrer, sondern über ihre Cliquen und ein Lehrer kann denke ich nur sehr eingeschränkt in diese Strukturen eingreifen. Ein „Seid doch mal nett zu dem Außenseiter“ bringt wenig, wenn er einfach ein merkwürdiger Kerl ist.

Ich kann mir allerdings auch vorstellen, dass ganz unterschiedliche Erwartungen wie oben geschildert bei einigen Jungs das Gefühl verschärfen, dass gerade sie Außenseiter sind. Problem ist insofern vielleicht auch, dass Kinder heute einfach schon wesentlich mehr Sachen aus dem Erwachsenenbereich machen können, früher Beziehungen haben, früher Sex haben und damit auch einfach früher auffällt, dass sie in dem Bereich Defizite haben. Ob diese Defizite durch mehr männliche Kontaktpersonen aufgehoben werden können ist eine interessante Frage. Ich bin da eher skeptisch.

Hier ist aber besonders zu bedenken, dass gerade dieser Täter hier sehr wahrscheinlich Probleme hatte, die nicht mit seinem Umfeld zusammenhängen. Bei ihm scheint eher einiges für eine gewisse Veranlagung zu sprechen, die vollkommen unabhängig davon ist, ob Lehrer oder Lehrerinnen um ihn herum sind.

Auch anderweitig gab es Kritik an Hollsteins Text:

Aber weil Hollstein anscheinend nur ein Thema kennt, wird halt passend gemacht, was ihm so einfällt: Das muss natürlich sein, dieses Zusammentreffen von Schule und Gewalt aus der Hand eines jungen Mannes, weil in den Schulen die Frauen das Sagen haben, denn: „Jungen wachsen heute in einem engen Frauenkäfig von Müttern, Omas, Tanten, Erzieherinnen, Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen und Psychologinnen auf.“ (Dass in den Einkaufszentren und Kinos Frauen das Sagen hätten, will das auch jemand behaupten?) (…)

Wie ahistorisch ist dieser Blick eigentlich? Bis vor hundert Jahren waren Schulen nahezu ausschließlich männlich geprägt – Lehrer, Erzieher, Psychologen, all das waren seinerzeit Männer, und sind deshalb die wenigen Mädchen, die zur Schule gehen durften, mordende Psychopathinnen geworden? Und ist es nicht auch so, dass schon seit geraumer Zeit – nennen wir es mal: seit Beginn der Aufzeichnungen zu diesem Thema, also geschätzt seit dem Beginn der Geschichtsschreibung – es immer Männer waren, die weltweit den Großteil der physischen Gewalttaten verübt haben? Also auch schon lange bevor der Feminismus zu jener alles umfassenden Krake geworden sein könnte, die Hollstein und seine Glaubensgenossen sich da zusammenphantasieren? (…)

Die Ironie der Haltung Hollsteins liegt ja darin, dass sie alles andere als aufrecht, stolz und weltgegerbt daherkommt, was man früher mannhaft nannte: es ist eine weinerliche, unerwachsene Trotzreaktion darob, dass die Welt sich entwickelt und dabei nicht fortwährend nett zu ihm und den ach so leidenden Männern ist, deren Geschlechtsgenossen seltsamerweise immer noch die Spitzenpositionen weitgehend unter sich ausmachen. Immer sind die anderen schuld, fast immer die Frauen und vor allem die bösen, bösen Feministinnen; und die Weltsicht ist dann so beschränkt, dass man in allem nur diese eine Ursache am Werke sieht.

In der Tat dürfte es männliche Amokläufe schon zu Zeiten gegeben haben, bei denen die Lehrerinnen noch nicht so zahlreich waren. Es ist aber gleichzeitig lustig, dass ein überzeugter Feminist hier kritisiert, dass immer die anderen schuld sind und man in allem nur diese eine Ursache am Werke sieht. Insbesondere wenn man im Satz davor anführt, dass die Männer „seltsamerweise immer noch die Spitzenpositionen weitgehend unter sich ausmachen“.

In eine ähnliche Kerbe haut Dr. Mutti:

Aber vielleicht doch in der Schule? Wäre doch möglich, dass dort andere Regeln gelten als im Kindergarten. Sicher ist das so. Nur waren auch zu einer Zeit, als mehr oder sogar ausschließlich Männer in den Schulen unterrichtet haben, bei Schulmassakern ausnahmslos Männer die Täter – wie etwa bei dem Amoklauf von Bremen 1913, dem Schulmassaker von Bath 1927 oder dem Attentat von Volkhofen 1964. Darüber hinaus richten sich viele Schulmassaker gegen weiterführende Schulen, an denen das Geschlechterverhältnis bei den Lehrenden deutlich ausgewogener als an Grundschulen ist. Hollstein selbst zitiert Robert Steinhäuser, der 2002 in Erfurt 17 Menschen und sich selbst erschoss: “Das Einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin.”. Nur tötete Steinhäuser nicht in einer Grundschule, sondern an einem Gymnasium. Der Amoklauf von Ansbach im Jahr 2009 traf ebenfalls ein Gymnasium. Die Amokläufe von Emsdetten 2006 und Winnenden 2009 geschahen an Realschulen. “Schule ist für viele Jungen in den letzten Jahren zu einem Horrortrip geworden”, behauptet Hollstein. “Da liegt dann Rache als „Ausweg“ nahe.” Warum aber sollten nochmal die Grundschulen, und nicht die Realschulen oder Gymnasien, der Hort des Schreckens sein? Ach ja, wegen der Frauen und der Schmetterlinge, die den Jungen das Mannsein verleiden.

Soweit kann ich die Kritik durchaus teilen.

Hugo Schwyzer schreibt zu solchen Amokläufen:

Are white men particularly prone to carrying out the all-too-familiar mass killings of which last week’s Aurora shooting is just the latest iteration? Is there something about the white, male, middle-class experience that makes it easier for troubled young men to turn schools and movie theaters into killing fields? In a word, yes.

Perhaps the greatest asset that unearned privilege conveys is the sense that public spaces “belong” to you. If you are—like James Holmes last week, or Charles Whitman, who killed 16 people on the University of Texas, Austin campus in 1966—an American-born, college-educated white man from a prosperous family, you don’t have a sense that any place worth being is off-limits to the likes of you. White men from upper middle-class backgrounds expect to be both welcomed and heard wherever they go. When that sense of entitlement gets frustrated, as it can for a host of complex psychological reasons, it is those same hyper-privileged men who are the most likely to react with violent, rage-filled indignation. For white male murderers from “nice” families, the fact that they chose public spaces like schools, university campuses, or movie theaters as their targets suggests that they saw these places as legitimately theirs.

Diese In-Besitznahme-Theorie aufgrund von Privilegien erscheint mir auch eher wenig plausibel. Sie wollen ja nicht Plätze besetzen, sondern sich an Leuten rächen. Und gerade bei dem letzten Vorfall passt es auch gar nicht. Denn eine Grundschule ist kein Platz, den er besonders besetzen muss, dafür war er bereits zu alt.

Ein weiterer Artikel haut ebenfalls in die „White males“-Kerbe:

Rachel Kalish and Michael Kimmel (2010) proposed a mechanism that might well explain why white males are routinely going crazy and killing people. It’s called „aggrieved entitlement.“ According to the authors, it is „a gendered emotion, a fusion of that humiliating loss of manhood and the moral obligation and entitlement to get it back. And its gender is masculine.“ This feeling was clearly articulated by Eric Harris and Dylan Klebold, the perpetrators of the Columbine Massacre. Harris said, „People constantly make fun of my face, my hair, my shirts…“ A group of girls asked him, „Why are you doing this?“ He replied, „We’ve always wanted to do this. This is payback… This is for all the sh*t you put us through. This is what you deserve.“

Warum man Gefühle wie Rache, den Wunsch nach Status, verletzten Stolz, nicht einfach als solche bezeichnen kann, leuchtet mir nicht ein.  Es muss gleich eine Berechtigung zu höherem sein, die man einverlangt.