Allgemein besteht eine erhebliche Zurückhaltung bei der Annahme, dass durch Evolution ein Gehirn entstanden sein kann, dass bestimmte verhalten bevorzugt oder auf evolutionär stabile/vorzugswürdige Strategien hin optimiert ist.
Dabei ist das Gehirn natürlich auch nur ein Organ, dass den gleichen evolutionären Regeln unterliegt und vollständig nach diesen entstanden ist.
Wenn man Menschen fragt, was wohl wichtiger für den Erfolg eines Menschen ist, dann werden viele recht schnell antworten, dass sein Gehirn der wichtigste Faktor ist. Gerade bei intelligenten Gruppentieren, die zu Koalitionen in der Lage sind, besteht sehr häufig die Möglichkeit pure Muskeln durch Gehirn zu übertrumpfen.
Wir haben auch bei allen anderen Tieren kein Problem damit, Verhalten, selbst sehr kompliziertes Verhalten, als durch deren Biologie bedingt zu sehen.
Dass Ameisenparasiten sich in das Lager von Ameisen einschleusen und ihrer Königin gezielt den Kopf abschneiden um deren Platz einzunehmen und die Nachkommen von deren bisherigen Volk versorgen zu lassen führen wir auf ein dafür entwickeltes Nervensystem zurück.
Dass Herdentiere nicht plötzlich Gruppentiere werden ist ebenfalls Biologie.
Dass Löwen bei der Übernahme eines Rudels die Jungtiere töten erscheint uns in seiner Schrecklichkeit logisch und als Umsetzung einer biologisch erfolgreichen evolutionären Strategie.
Dass Bonobos nicht plötzlich schamhaft werden und Gorillas nicht plötzlich monogam bereitet uns – trotz ihrer engen Verwandtschaft mit uns und sehr hoch entwickelten Gehirnen – kein Kopfzerbrechen.
Wenn Schimpansen Machtspiele spielen um in der Hierarchie aufzusteigen und erbittert untereinander um die zur Verfügung stehenden Plätze an der Spitze kämpfen, dann werden die meisten Leute interessiert lauschen, wenn man dies als Ausdruck intrasexueller Konkurrenz erklärt, die letztendlich der Partnerwahl dient und mit einer biologischen Einordnung keine Probleme haben.
Bisher habe ich noch von keiner Forschung gelesen, die meint, dass man Menschenaffen dekonstruieren kann.
Wir wissen und akzeptieren, dass das Gehirn auch beim Menschen, der mit den anderen Primaten gemeinsame Vorfahren hat, nicht komplett neu entworfen wurde (wie auch im Rahmen der Evolution, die nur kleine Schritte kennt, die stets im laufenden Betrieb einen Vorteil bieten müssen), sondern eher ein Schichtensystem darstellt, bei der das Stammhirn ein Kleinhirn und ein Großhirn aufgesetzt bekommen hat. Und selbst innerhalb dieser wissen wir, dass die Gehirnarealle bei Mensch und anderen Primaten im wesentlichen gleich sind, sie sind beim Menschen nur anders aufgebaut und mit mehr Leistungskraft versehen.
Wir haben kein „neues Menschengehirn“, sondern ein „getuntes Primatengehirn“, das ein „getuntes Säugetiergehirn“ ist und so weiter.
Wer bei einem Primaten wie den Schimpansen oder den Gorillas biologisch beeinflusstes Verhalten annimmt, dem sollte ein kompletter Umbau des Gehirns bei Menschen hin zu vollkommener Freiheit schwer fallen. Es fehlt auch ein diesbezüglicher selektiver Druck, aus dem heraus Attraktivitätsmerkmale für eine gute Fortpflanzung oder der Wunsch in einer Hierarchie einen guten Platz zu erlangen, weggefallen sein sollen, gerade wenn sie dann durch ein genau gleiches soziales Konstrukt, dass genau diese Merkmale vorteilhaft macht, ersetzt.
Auch Charles Darwin erhielt den meisten Widerstand gegen seine Thesen nicht dafür, dass er die Evolution der Tiere darlegte, sondern dem Menschen gerade in Bezug auf sein Verhalten die Sonderstellung raubte. Die Entstehung der Tiere durch Mutation und Selektion wurde bald akzeptiert, die Evolution des Menschen, gerade des Verhaltens des Menschen, durch diese Mechanismen stieß aber auf erbitterten Widerstand.
Hier wollte man den Schöpfungsakt, das besondere, das Untierische. Und auch heute, wo in Europa die meisten Leute zustimmen würden, dass der Mensch durch Evolution entstanden ist und einen gemeinsamen Vorfahren mit den anderen Primaten hat, wird man bei der Anwendung genau der gleichen evolutionsbiologischen Regeln, die man auf das gesamte Tierreich anwendet und die bei Primaten akzeptiert sind, häufig entsetzte Blicke ernten.
Es ist mit unser Selbstwahrnehmung nicht kompatibel uns als Überlebensmaschine unser egoistischen Gene zu sehen, weil diese die Matrix auf unserem Gehirn laufen lassen, die uns die diesbezügliche Unbeeinflusstheit vorgaukelt, weil uns die Optionen, die wir für eine Entscheidung zur Verfügung haben und unsere Abwägungsmatrix unabhängig vorkommt, obwohl sie auf den Wünschen und Vorlieben beruht, die uns unsere Biologie vorgibt.
Meiner Meinung nach liegt hier die Beweislast für ein wegfallen biologicher Einflüsse, gerade in den Bereichen Partnerwahl und sexuelle Selektion deutlich auf Seiten der Befürworter eines Wegfalls.
Es ist nach unserer Evolutionsgeschichte zu erwarten, dass unser Verhalten umfangreich durch unserer Biologie beeinflusst ist.
Wir finden auch genug Verhalten, bei denen dies unproblematisch angenommen wird. Von Hunger und Durst bis zu der Frage der Recht- oder Linkshändigkeit haben wir wenig Probleme damit, biologische Faktoren anzunehmen. Aber bei Sex und Fortpflanzung soll dies dann nicht mehr der Fall sein, obwohl gerade in diesem Bereich der evolutionäre Druck eher gestiegen ist, an biologischen Modellen festzuhalten, weil die Fortpflanzung aufgrund der hohen Unselbständigkeit des menschlichen Kindes für beide Geschlechter teurer geworden ist als für das erste Säugetier vor etwa 200 – 270 Millionen Jahren, bei dem ebenfalls bereits die Weibchen einen „Fixkostennachteil“ hatten, der nur über Beteiligung des Männchens auszugleichen war, so dass auch hier bereits ein entsprechender evolutionärer Druck für eine Auseinanderentwicklung vorhanden war.
Aber auch Wettbewerb, reziproker Altruismus, starke Gefühle wie Eifersucht, Liebe, Hass und Nachtragen von bestimmten verhalten lassen sich problemlos in ein evolutionärer Modell einordnen und sind bei unserer Biologie nicht nur zu erklären, sondern sogar zu erwarten. Sie sind spieletheoretisch erklärbar und durch entsprechende Modelle und Berechnungen nachzuvollziehen.
Eine Theorie, nach der der Mensch frei ist von seiner Biologie muss viel erklären, gerade in Hinblick auf die Evolution und die Nähe zu den anderen Primaten, die vieles an menschlichen Verhalten zeigen.
Bisher sind die diesbezüglichen Bemühungen meiner Meinung nach nicht zum Kern vorgedrungen.