Der Spiegel titelt „Die Evolution gilt auch für den modernen Menschen“ und schreibt sodann:
Der Starke frisst den Schwachen, der langlebige Gesunde kann seine Gene besser verbreiten als der kurzlebige Kranke: Diese Regeln, so glauben Menschen gern, gelten in der Tierwelt – nicht aber für die Menschheit, zumindest nicht jenen Teil, der in den Genuss moderner Medizin kommt. Die Evolution des Homo sapiens wäre in diesem Fall gewissermaßen zum Stillstand gekommen.
Doch das ist ein Trugschluss, wie ein internationales Forscherteam um Alexandre Courtiol vom Wissenschaftskolleg zu Berlin glaubt. „Menschen entwickeln sich auch in der Neuzeit weiter, genauso wie andere Lebewesen“, schreiben die Wissenschaftler im Fachblatt „Proceedings of the National Academy of Sciences“. Es sei ein Fehler zu denken, dass man die menschliche Evolution nur verstehen könnte, wenn man Steinzeitmenschen analysiere.
Im Folgenden geht es dann im wesentlichen um zwei Studien:
Die erste:
Sexual selection, or competition among members of one sex for reproductive access to the other, is one of the strongest and fastest evolutionary processes. Comparative studies support the prediction that sexual selection is stronger in polygamous than in monogamous species. We report the first study of the effect on sexual selection of a change in mating system, from polygyny to monogamy, within a historical human population. Here we show that over the reproductive lifetimes of Utahns born between 1830 and 1894, socially induced reductions in the rate and degree of polygamy correspond to a 58% reduction in the strength of sexual selection. Polygyny conferred a strong advantage to male fitness as well as a weak disadvantage to female fitness. In contrast, mating with multiple males provided little benefit to females in this population. Polygamy benefitted males by increasing reproductive rates and by lengthening reproductive tenure. Each advantage contributed to roughly half of the increased total lifetime reproductive success. This study illustrates both the potency of sexual selection in polygynous human populations and the dramatic influence that short-term societal changes can have on evolutionary processes.
Polygyny müßte, da es eine Verknappung der Frauen bedeutet, dazu führen, dass die intrasexuelle Konkurrenz um diese Frauen ansteigt. Das wird in einer Population insbesondere dazu führen, dass die Gene derer, die der intrasexuellen Konkurrenz nicht gewachsen sind, am schnellsten aus dem Genpool verschwinden und die, die dieser Konkurrenz besonders gut gewachsen sind, sich besonders schnell anreichern. Es müssen also nicht unbedingt Mutationen auftreten, vielmehr reicht eine Betonung bisheriger Komponenten im Genpool.
Und die zweite:
Whether and how human populations exposed to the agricultural revolution are still affected by Darwinian selection remains controversial among social scientists, biologists, and the general public. Although methods of studying selection in natural populations are well established, our understanding of selection in humans has been limited by the availability of suitable datasets. Here, we present a study comparing the maximum strengths of natural and sexual selection in humans that includes the effects of sex and wealth on different episodes of selection. Our dataset was compiled from church records of preindustrial Finnish populations characterized by socially imposed monogamy, and it contains a complete distribution of survival, mating, and reproductive success for 5,923 individuals born 1760–1849. Individual differences in early survival and fertility (natural selection) were responsible for most variation in fitness, even among wealthier individuals. Variance in mating success explained most of the higher variance in reproductive success in males compared with females, but mating success also influenced reproductive success in females, allowing for sexual selection to operate in both sexes. The detected opportunity for selection is in line with measurements for other species but higher than most previous reports for human samples. This disparity results from biological, demographic, economic, and social differences across populations as well as from failures by most previous studies to account for variation in fitness introduced by nonreproductive individuals. Our results emphasize that the demographic, cultural, and technological changes of the last 10,000 y did not preclude the potential for natural and sexual selection in our species.
Quelle: Natural and sexual selection in a monogamous historical human population
Der Spiegel zitiert die Forscher der letzten Studie wie folgt:
Vier Faktoren sind für Erfolg bei der Selektion entscheidend: Die Überlebensfähigkeit bis zum 15. Lebensjahr, der Zugang zu potentiellen Partnern, die Zahl der Partner und die Zahl der Kinder. Geld spielte dabei offenbar keine Rolle. „Wir haben die Versuchsgruppe in reichere Landeigentümer und ärmere Pächter aufgeteilt. Der soziale Status wirkte sich auf die Ergebnisse kaum aus“, schreiben die Forscher. „Das war überraschend.“ Sie vermuten, dass Menschen ein sehr großes Vermögen aufbauen müssten, um die natürliche Auslese wirklich beeinflussen zu können – und auch das würde nur in einer strengen Klassengesellschaft funktionieren.
Der Vergleich zwischen Männern und Frauen brachte eindeutigere Ergebnisse: „Eigenschaften, die Menschen zu mehr Partnern verhelfen, entwickeln sich bei Männern vermutlich schneller weiter als bei Frauen“, berichtet Courtiol. Der Grund: Sie zeugten mehr Kinder als Frauen. „Verwitwete Männer heirateten häufig noch einmal eine jüngere Frau und bekamen noch mehr Kinder.“ Verwitwete Frauen hätten wegen des Einsetzens der Menopause seltener Kinder von ihrem zweiten Ehemann bekommen. Wer mehr Kinder zeugte, hatte auch längerfristig mehr Nachkommen. „Genau das verstehen wir unter Selektion“, erklärt Studienleiter Courtiol.
Dass der soziale Status, wenn man ihn auf Geld reduziert, eine geringere Rolle spielt, verwundert bei dieser Betrachtung weniger. Denn in einer Monogamie war eben auch nur eine Frau erlaubt und die Kinder aus Seitensprüngen können durch die Kirchenbücher gerade nicht erfasst werden. Gerade wenn die Frauen von reicheren Männern länger lebten (wegen besserer Betreuung und Ernährung) und daher eher in die Menopause kamen, hätten die Reichen offiziell weniger Kinder bekommen als Ärmere (mit Game) die sich eine neue Frau nahmen, nachdem die erste starb.
Aber es ist interessant, dass sich hier eine Bestätigung für sexuelle Selektion findet. Man bedenke den kurzen Zeitraum, der hier nachverfolgt wurde. Dann muss man sich vorstellen, wie alt der Mensch, auch in seiner noch nicht menschlichen Form ist, und wie lange die Lage schon besteht, dass die Frau die höheren Kosten der Aufzucht extrem unselbständiger Kinder trägt. Wie wird sich eine solche sexuelle Selektion wohl über eine so lange Zeit auswirken?