Darwin, Lamarckismus und „Geschlecht – wider die Natürlichkeit“

Ich lese gerade von Heinz-Jürgen Voss  „Geschlecht – Wider die Natürlichkeit“ eine interessante Passage zu Lamarckismus und Darwin:

Nun schreibt Voss:
Ein dritter Aspekt ist ebenfalls bedeutsam. So wurde Darwins Theorie in der heutigen Rezeption oftmals in dem Sinne gegen Lamarcks Evolutionstheorie gestellt, dass erworbene Eigenschaften nach Darwin angeblich nicht auf den Nachwuchs übergingen. Darwin schreibt aber ganz anderes, hier nun auch gleich bezüglich der Intelligenz: Soll das Weib dieselbe Höhe wie der Mann erreichen, so muss es mit beginnender Geschlechtsreife zur Energie und Ausdauer erzogen werden und Verstand und Einbildungskraft müssen bis zur höchsten Entfaltung geübt werden; es würde dann wahrscheinlich diese Eigenschaften größtenteils auf seine erwachsenen Töchter übertragen. Alle Frauen können aber nur dann derart in die Höhe gebracht werden, wenn viele Generationen diejenigen, die sich in jenen kräftigen Tugenden auszeichnen, heiraten und mehr Kinder zur Welt brachten als andere Frauen“ (Darwin 1951 (1871):  564) Darwin lässt also sehr wohl gesellschaftliche Wirkungen zu und beschreibt die Weitergabe auch erworbener Merkmale an die Nachkommen als möglich
Ich habe die Stelle gleich einmal bei Darwin nachgelesen, nur um sicher zu sein, weil ich sie so gar nicht mit seinen sonstigen Theorien in Einklang bringen kann: Sie klingt in der Tat recht lamarckisch. Aber – soviel muss man ihm natürlich zugestehen – Voss hat ihn richtig zitiert.
Was allerdings nichts daran ändert, dass Lamarckismus heutzutage allgemein als unwissenschaftliche, gerade in dem hier zitierten Sinn gibt und mir kein Biologe bekannt ist, der diese These heute noch vertritt.
Lamarckismus als Rettungsanker für Ideen aus dem Poststrukturalismus ist natürlich verlockend und ich kann verstehen, dass Voss sich auf dieses Zitat gestürzt hat – es bleibt aber unlauter es den Lesern seines Buches in dieser Form zu präsentieren, da man davon ausgehen kann, dass diese keine Ahnung haben, was Lamarckismus eigentlich ist und das man sich in der wissenschaftlichen Welt lächerlich macht, wenn man ihn ernsthaft und in dieser Form vertritt.
Darwins große Idee ist Mutation und Selektion. Und diese fehlt hier natürlich. Man müßte also oben ergänzen, dass man die Frauen entsprechend unterrichten müßte, um ihre Fähigkeiten zu ermitteln und dann diejenigen „selektieren“ müßte, die gute Fähigkeiten haben. Würde es eine genetische Grundlage der entsprechenden Fähigkeiten geben, dann könnte man damit Frauen mit besseren Fähigkeiten in dem Bereich schaffen – würde aber ein umfassendes Menschenexperiment ansetzen müssen, welches in dieser Form wohl kaum zumutbar und durchführbar ist.
Interessant dennoch Darwins Einstellung zum Lamarckismus:
Nach dem, was ich gefunden habe, stand er der Idee zumindest Anfangs eher kritisch gegenüber:
 I forget my last letter, but it must have been a very silly one, as it seems I gave my notion of the number of species being in great degree governed by the degree to which the area had been often isolated & divided;; I must have been cracked to have written it, for I have no evidence, without a person be willing to admit all my views, & then it does follow; but in my most sanguine moments, all I expect, is that I shall be able to show even to sound Naturalists, that there are two sides to the question of the immutability of species;—that facts can be viewed & grouped under the notion of allied species having descended from common stocks. With respect to Books on this subject, I do not know of any systematical ones, except Lamarck’s, which is veritable rubbish; but there are plenty, as Lyell, Pritchard, on the view of the immutability.
Später hat Darwin den Gedanken der Weitergabe von Eigenschaften aber wohl doch aufgenommen, in seinen Theorien zur Pangenesis:

Darwin entwickelte die Pangenesistheorie in seinen späten Werken als Konzession an Vertreterlamarckistischer Auffassungen wegen bestimmter Anpassungsphänomene bei Lebewesen, die er nicht mit seiner Selektionstheorie erklären zu können glaubte:

„Es wird fast allgemein zugegeben, dass die Zellen oder die Einheiten des Körpers sich durch Theilung oder Prolification fortpflanzen, wobei sie zunächst dieselbe Natur beibehalten und schliesslich in die verschiedenen Gewebe und Substanzen des Körpers verwandelt werden. Aber ausser dieser Vermehrungsweise nehme ich an, dass die Zellen vor ihrer Umwandlung in völlig passive oder ‚gebildete Substanz‘ kleine Körnchen oder Atome abgeben, welche durch den ganzen Körper frei circulieren und welche, wenn sie mit gehöriger Nahrung versorgt werden, durch Theilung sich verfielfältigen und später zu Zellen entwickelt werden können, gleich denen von denen sie herrühren. Diese Körnchen können der Deutlichkeit halber Zellenkeimchen genannt werden, oder da die Zellentheorie nicht vollständig begründet ist, einfach Keimchen … Endlich nehme ich an, daß die Keimchen in ihren schlummernden Zustande eine gegenseitige Verwandtschaft zueinander haben, welche zu ihrer Aggregation entweder zu Knospen oder zu den Sexualelementen führt. Um genauer zu sprechen, so sind es nicht die reproduktiven Elemente, auch nicht die Knospen, welche neue Organismen erzeugen, sondern die Zellen selbst durch den ganzen Körper. Diese Annahmen bilden die provisorische Hypothese, welche ich Pangenesis genannt habe.“ [1]

Das folgende Zitat zeigt eindeutig, dass Darwin weit lamarckistischer im Sinne einer Vererbung erworbener Eigenschaften gedacht hat, als wir dies heutzutage wahr haben wollen: „Bei Variationen, welche durch die directe Einwirkung veränderter Lebensbedingungen verursacht werden … werden die Gewebe des Körpers nach der Theorie der Pangenesis direct durch die neuen Bedingungen afficiert und geben demzufolge modificirte Nachkommen aus, welche mit ihren neuerdings erlangten Eigenthümlichkeiten den Nachkommen überliefert werden. …“

Die Idee der „Keinmchen“ ist heute ebenso widerlegt wie sonstige Lamarckische Theorien. Kein ernsthafter Wissenschaftler geht heute davon aus, dass die Ausbildung einer Frau in Mathe irgendwelche biologischen Einflüsse auf die Fähigkeiten ihrer Kinder hat.

Eine Berufung auf Lamarck kann Darwin nachgesehen werden, weil er noch nicht das heutige Wissen über Gene und Vererbung hatte.

Voss hingegen hätte, gerade weil er für Leser schreibt, die sich auf dem Gebiet nicht auskennen, doch zumindest eine Einordnung vornehmen sollen, dass diese Idee heute nicht mehr vertreten wird und Darwin hier daneben lag. Sich einfach so auf Darwin zu berufen und damit eine gewisse Autorität auf dem Gebiet zu nutzen erscheint mir unseriös