Ein wesentliches Element im Veständnis der Evolution ist, dass wir nicht gebaut werden, sondern wachsen. Aus der befruchten Eizelle heraus entwickelt sich durch beständiges Wachstum der Mensch, der dabei die ganze Zeit lebensfähig (wenn auch teilweise an ein Lebenserhaltungssystem angeschlossen) bleiben muss. Die Gene erhalten also keinen Scan des Körpers, der quasi schichtweise den Aufbau des Körpers enthält und bei dem man bei den Füßen anfangen kann um dann bis zu dem Kopf weiterzubauen, sondern Wachstumsanweisungen, die schließlich zum fertigen Produkt führen.
Dabei ist ein weiteres Element, dass wir Steuergene („Hox-Gene„) haben, die teilweise in einer Art Baukastensystem weitere Elemente auswählen können. Das bedeutet, dass wir beispielsweise für das Wachsen eines weiteren Fingers an einer Hand keinen kompletten Bauplan für den sechsten Finger benötigen, sondern nur einen Wachstumsplan, der etwas vereinfacht besagt „Spalte dich im Wachstum nicht 5 mal, sondern 6 mal ab und benutze dann den bei allen 6 Abspaltungen den Bauplan für das Modul „Finger“. Über weitere Abspaltungsregelungen in den Hoxgenen einen Ebene tiefer kann man dann Wachstumsregeln für diese Finger festlegen. Eine Mutation hin zu einem sechsten Finger muss daher gar nicht so groß sein, sie muss „nur“ den Stellwert betreffen.
Eine ähnliche Mutation hat die Schlange durchgemacht. Die Schlange hat im Prinzip einen stark verlängerten Oberkörper, bei dem immer neue Brustwirbel nachgefolgt sind, weil der Bauplan für diese immer wieder neu aufgerufen wurde. Die Steuerung des Wachstums kann dabei nach verschiedensten Kriterien erfolgen. „Wachse bis du auf X stößt“ oder „Wachse, bis eine bstimmte Konzentration eines gleichzeitig erfolgten Stoffs erfolgt ist“ sind zB denkbare Vorgaben.
Diese Steuerung kann ebenfalls sehr effektiv für Geschlechterunterschiede genutzt werden. Geht man davon aus, dass Geschlechtsunterschiede für Tiere bedeutsam sein konnten, weil die Gene die in einem männlichen bzw. weiblichen Körper landeten sich besser fortpflanzen konnten, wenn sie den Körper auf Fortpflanzung in einem männlichen oder weiblichen Körper optimierten, dann ist dabei eine Steuerung über die Hox-Gene ein sehr günstiger Weg Ein Befehl der vorsieht „wenn in einem weiblichen Körper, dann Bauplan X, wenn in einem männlichen Körper, dann Bauplan Y“ kann hier eine vorteilhafte Anpassung bedeuten, die optimal an die Geschlechterrolle angepasstes Wachsen ermöglicht.
Da wir aber keinen fertigen Bauplan, sondern einen Wachsplan haben, benötigen wir Ausführungsanweisungen, die dem wachsenden Körper mitteilen, welchen Weg er nehmen soll. Bei einer Bauweise, die ohne Ausführungsanweisung auskommen kann, müßte zunächst der Bauplan komplett umgeschrieben werden, bis er nur noch eine Anweisung für Mann oder Frau enthält. Ein solches Umschreiben ist schwierig, weil es einmal die Geschlechter sehr weit auseinander driften läßt, einen kompletten doppelten Satz erfordert und der Umschreibemechanismus auch erst durch Evolution entstehen muss. Das Botenstoffsystem hingegen erlaubt eine wesentlich flexiblere Umsetzung.
Hormone können dabei genau diese Funktion übernehmen. Da Testosteron üblicherweise über die Hoden im weitaus höheren Maße im männlichen Körper vorhanden ist und Östrogene über die Eierstöcke im weitaus höheren Maße im weiblichen Körper vorhanden sind, sind diese für einen Einsatz als Botenstoffe prädestiniert. (hier zwei Studien als Beispiel für Hoxgene und Hormone Eins Zwei)
Natürlich würde der Körper dann „Meßstationen“ brauchen, die den jeweiligen Hormongehalt messen und den erreichten Wert weitergeben. Dies ist über Hormonrezeptoren der Fall. Gerade an Stellen, die einen Geschlechterunterschied aufweisen finden sich am Körper Hormonrezeptoren, die diese Werte ablesen.
Damit sind auch „schleichende Übergänge“ möglich. Ein Hox-Gen, dass je nach der Höhe des angezeigten Wertes einen Wachs- oder Entwicklungsbefehl in eine bestimme Richtung gibt und das Wachstum oder die Entwicklung soviele Wachszyklen oder Entwicklungsschritt anhälten läßt, wie der Wert betragen hat (sehr vereinfacht ausgedrückt), kann dann (ggfs unter Aktivierung weiterer Hox-Gene im Laufe des Wachstums und unter Berücksichtigung der Art des Wachstums) bestimmte Bauweisen des fertigen Wesens zur Folge haben. Beispielsweise könnte bei Vorliegen eines gewissen Hormonstandes in dem Bereich, der räumliches Denken ermöglicht, dass Programm „Bilde vernetzte Gehirnzellen“ bei hohem Testosteronstand häufiger abgerufen werden, wobei die Bildung der Zellen und deren Vernetzung dann nach anderen Steuerungsmechanismen erfolgt. Im weiteren Wachsen können diese „Gehirnzellen für räumliches Denken dann unter dem Einfluss vom postnatalen Testosteron und nach einem Anforderungsplan bei Training weiter ausgebaut werden.
Möglich ist auch, dass diese Steuerung nicht kontinuierlich erfolgt, sondern ab einem bestimmten Plan ein ganz anderes Wachstumsprogramm angesteuert wird. „Wenn der Testosteronwert X überschreitet, dann aktiviere Unter-Hoxgen 1, wenn dies nicht der Fall ist, dann aktivere Hoxgen 2“ wäre zB eine einfache Steuerung. Diese würde sich zB bei Attraktivitätsmerkmalen anbieten, da diese nicht schleichend, sondern je nach Geschlecht benötigt werden.
- Bisexualität könnte dann auftreten, wenn verschiedene Hoxgene beim Ausbau der Attraktivitätsmerkmale verschiedene Schwellenwerte haben. Es wären dann gemischte Attraktivitätsmerkmale vorhanden.
- Eine Art von Asexualität würde hingegen auftreten, wenn das Hoxgen einen Fehler enthält und gar keine Attraktivitätsmerkmale eingespeichert sind. Es fehlt dann an einer Vorgabe, was eigentlich attraktiv sein soll und der oder die Betroffene kann kein Attraktivitätsprogramm abrufen, für ihn ist dann ein Mann oder eine Frau nicht anregender als ein Buch. Gleichzeitig kann sexuelle Stimulation dennoch einen Reiz auslösen, weil diese Reize nicht mit den (nicht)abgespeicherten Attraktivitätsprogramm in Verbindung stehen, sondern nach anderen Kriterien ausgewertet werden.
- Funktionieren die Testosteronrezeptoren nicht richtig (also genauer: Wie beim Schnitt der Menschen, es gibt ja insoweit kein richtig oder falsch), dann werden niedrigere oder höhere Werte an die Hoxgene weitergegeben. Es wird dann trotz hohem oder niedrigen Testosteronstand ein anderer Entwicklungs- oder Wachstumsbefehl weitergeben.
- Bei CAIS-Frauen beispielsweise wird quasi gar kein Testosteron angezeigt, weswegen sich der gesamte Körper weiblich entwickelt, soweit die dieser Entwicklung zugrundeliegenden Hoxgene Testosteronabhängig sind.
- Bei CAH-Frauen produziert der Körper über die Nebennierenrinde mehr Testosteron. Es wird daher ein höherer Wert angegeben und daher insgesamt ein Programm gewählt, was eher dem für Männer optimierten Bauplan entspricht. Bei Mann-Frau-Transsexuellen geben die Testosteronrezeptoren einen niedrigeren Testosteronwert weiter, der dafür sorgt, dass zwar der Körper gemäß dem männlichen Bauplan, der „Geist“ aber nach dem weiblichen Bauplan ausgeführt wird (was darauf schließen läßt, dass der Schwellenwert für das Gehirn niedriger ist als der für den Körper).
- Homosexuellen ist weniger oder mehr Testosteron vorhanden(oder die Schwellenwerte niedriger), was die Attraktivitätsmerkmale betrifft.